Verbraucherministerin Ilse Aigner "Wir Deutschen sollten unsere Esskultur mehr pflegen"

Die Ernährungsindustrie trickst, und Verbraucher sind achtlos, sagt die Ministerin und will eine neue Esskultur.

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Ilse Aigner Quelle: Andreas Chudowski für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Frau Ministerin, kommt bei Ihnen Tiefkühlpizza auf den Tisch?

Aigner: Ich koche lieber selbst, mit frischen Zutaten vom Markt. Aber wenn es schnell gehen muss, der Kühlschrank leer ist und der nächste Termin drängt, ist es nicht schlecht, wenigstens eine Pizza im Tiefkühlfach zu haben – für den Notfall.

Dann essen Sie also auch Analogkäse und Klebeschinken?

Ich achte beim Einkaufen genau auf die Zutaten, auch wenn solche Imitate unter gesundheitlichen Aspekten völlig unbedenklich sind…

... aber auch nicht das, was die Verbraucher auf einer Pizza erwarten.

Das ist richtig. Deshalb muss das auf der Verpackung gekennzeichnet sein.

Gucken Sie immer nach?

Früher weniger, aber heute schaue ich genauer hin. Im Prinzip sind Imitate anhand der Zutatenliste zu erkennen. Wenn etwa nur pflanzliche Fette draufstehen, ist kein richtiger Käse drin. Problematisch wird es bei Mischungen. Dann kann es ein Verbraucher kaum erkennen.

Dann werden die Verbraucher also getäuscht?

Deshalb möchte ich, dass auf Analogkäse oder auch Klebeschinken auf der Packung gut sichtbar hingewiesen wird. Dies können wir aber nicht im nationalen Alleingang regeln, weil alle verpflichtenden Kennzeichnungen europäisches Recht sind.

Das kann dauern. Wie lange werden die Verbraucher wegen Brüssel noch versehentlich zur Analogkäsepizza greifen?

Schwer zu sagen. Auch wenn es zuweilen ein einsamer Kampf ist: Wir dringen in Brüssel auf eine unmissverständliche Kennzeichnung. Viele im Europäischen Parlament sind auf unserer Seite, aber die EU-Kommission und einige Mitgliedstaaten sind noch zurückhaltend.

Neben den mickrigen Kennzeichnungen stechen die opulenten Serviervorschläge hervor. Führt die Ernährungsindustrie uns Verbraucher planmäßig hinters Licht?

Wenn keine Kirsche im Joghurt drin ist, darf auch keine Kirsche drauf sein. Die zuständigen Kontrollbehörden der Bundesländer müssen Hinweisen auf Täuschung nachgehen und Rechtsverstöße entschlossener und konsequenter ahnden. Eine andere Frage ist, wie viel Kirsche ein Kirschjoghurt enthalten muss? 100 Prozent Frucht geht nicht, sonst wäre kein Platz mehr für den Joghurt. Aber welcher Anteil ist ausreichend?

Discounter: Noch mehr Märkte, noch höherer Preisdruck Quelle: dpa

Und wer beantwortet die Frage nun?

Hier ist die Lebensmittelbuch-Kommission am Zug. In diesem Gremium sitzen Vertreter der Überwachungsbehörden, Wissenschaftler, Verbraucherschützer und Hersteller.

Diese Kommission hätte aber schon lange etwas unternehmen können.

Die Verbraucher sind keine statischen Wesen. Sie entwickeln seit einiger Zeit ein stärkeres Bewusstsein bei Lebensmitteln, auch Faktoren wie eine Zunahme von Lebensmittel-Unverträglichkeiten und Allergien verändern das Verhalten. Daneben gibt es immer mehr technologische Entwicklungen im Nahrungsmittelbereich. Ein Beispiel: Vermeintliche Innovationen wie Klebeschinken sind zwar nicht gesundheitsschädlich, aber vielen Verbrauchern zuwider. Darauf müssen Wirtschaft und Politik reagieren.

Foodwatch-Gründer Thilo Bode verteilt an die Ernährungsindustrie „goldene Windbeutel“ – für Mogelpackungen. Sind Sie ihm dankbar, dass er damit die Öffentlichkeit wachrüttelt?

Er lebt von der Skandalisierung. Das ist sein Geschäftsmodell, um möglichst viele Mitglieder und Spendengelder zu gewinnen. Kampagnen, die ein Klima der Verunsicherung schüren, halte ich für bedenklich.

Was hilft stattdessen?

Ich will Dialog statt Kampagne, Aufklärung statt Show – wo nötig, muss es auch zu Veränderungen kommen. Dazu möchte ich mehr wissen über Meinungen, Empfinden und Wünsche der Verbraucher: Wo müssen wir Verpackungen, Kennzeichnungen, Namen oder Zutaten ändern, weil der Verbraucher sie nicht mehr versteht oder wünscht? Gibt es nur vereinzelt Probleme, oder haben wir es mit verbreiteten Phänomenen zu tun? Das geht nicht aus dem hohlen Bauch. Deshalb schaffen wir mit unserer Initiative „Klarheit und Wahrheit“ eine Internet-Plattform, auf der Verbraucher und auch Hersteller einen längst überfälligen Dialog führen können.

Die Industrie fürchtet, sie werde damit an den Pranger gestellt.

Davon kann keine Rede sein. Tatsache ist: Es gibt in der Ernährungswirtschaft schwarze Schafe, und die sollten auch benannt werden dürfen – im Interesse der Verbraucher, aber auch der vielen ehrlichen Unternehmen, die sich an Recht und Gesetz halten. Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gibt im Lebensmittelsektor einen wahnsinnigen Preisdruck. Viele Hersteller sehen sich durch den Handel gezwungen, ständig ihre Kosten zu optimieren und ihre Produkte so günstig wie möglich zu produzieren.

Dann ist also der Handel der Bösewicht?

Ich beobachte den teilweise ruinösen Wettbewerb, besonders unter den großen Discountern, mit wachsender Sorge. Deutschland hat heute bereits eine der höchsten Supermarkt-Dichten Europas. Noch mehr Märkte, noch höherer Preisdruck – wo führt das hin? Die Händler argumentieren, sie geben lediglich den Druck der Kunden weiter, die beim Einkauf vor allem auf den niedrigsten Preis achten.

Aha, jetzt wandert der Schwarze Peter an die Verbraucher?

Unsinn. Die Verbraucher haben Anspruch auf hochwertige und sichere Lebensmittel. Fakt ist aber auch: Die Bundesbürger geben im Schnitt etwa zehn Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus, die Franzosen 13, die Italiener fast 15 Prozent.

Buntes Gemüse Quelle: dpa

Legen die Deutschen zu wenig Wert auf ihre Ernährung?

Es gibt Menschen, die behandeln ihr Auto liebevoller als ihren eigenen Körper. Da bekommt der Motor nur das beste Öl, während wir bei unserem eigenen „Motor“ weit weniger anspruchsvoll sind. Wenn ich mir anschaue, wie viel Geld manche Leute in die Ausstattung ihrer Küche stecken und was sie dann kochen oder besser gesagt: aufwärmen, dann ist das ein krasses Missverhältnis.

Wie wollen Sie das korrigieren?

Bevormundung liegt mir fern, aber ich möchte die Verbraucher gerne dazu ermuntern, sich bewusst und ausgewogenen zu ernähren, Lebensmittel gezielter auszuwählen...

...und mehr dafür bezahlen?

Was ist teurer? Die Tütensuppe oder die selbst gemachte? Der Kuchen aus dem Tiefkühlfach oder das Rezept von Großmutter? Wer selbst kocht, muss für mehr Geschmack zwar etwas Zeit investieren, aber meist spart er Geld. Leider findet Essen bei uns zu oft nebenbei statt. Wir Deutschen sollten unsere Esskultur mehr pflegen und überhaupt ein stärkeres Bewusstsein bei der Ernährung entwickeln. Peruanischer Spargel oder südafrikanische Erdbeeren im Winter – das muss nicht sein, schon aus Gründen des Klimaschutzes. Was mich auch stört, ist der oft unachtsame Umgang mit Nahrungsmitteln. In Deutschland landen nach Schätzungen jährlich bis zu 20 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll. Das ist auch ein ethisches Problem und eine Verschwendung von Ressourcen.

Wie sicher ist denn die Nahrungsmittelversorgung auf unserer Erde?

Laut Vereinte Nationen wird die Weltbevölkerung in den nächsten 20 Jahren auf 8,3 Milliarden Menschen wachsen. Um alle ausreichend versorgen zu können, müsste die globale Nahrungsmittelproduktion in diesem Zeitraum deutlich zunehmen. Dafür müssten die weltweiten Getreideerträge Schätzungen zufolge um jährlich 3,3 Prozent steigen, derzeit liegt der Zuwachs aber nur bei zwei Prozent.

Wo gibt es noch Wachstumsreserven?

Zusätzliche Flächen stehen nur sehr begrenzt zur Verfügung. Die erforderliche Mehrproduktion muss über die Steigerung der Flächenerträge gehen. Da gibt es große Potenziale. So sind die Flächenerträge beispielsweise bei Getreide in Deutschland oder England doppelt so hoch wie in den USA und mehr als viermal so hoch wie in den meisten afrikanischen Ländern. Diese Steigerungen lassen sich auch mit konventionellen Mitteln erreichen, mit Züchtung und Technik.

Die Preise für Agrarrohstoffe ziehen an, die Schwankungen nehmen zu. Geht es hier mit rechten Dingen zu?

Die Agrarmärkte sind wetterabhängig und daher immer Schwankungen ausgesetzt. Deshalb brauchen Landwirte die Möglichkeit, die Preise über die Terminbörsen abzusichern. Die Kunst ist nun, Mittel gegen rein kapitalmarktgesteuerte Spekulationen zu finden, ohne dabei die Stabilisierungseffekte der Warenterminbörsen zu beeinträchtigen. Ich habe eine Arbeitsgruppe in meinem Haus damit beauftragt, alle Instrumente auf den Prüfstand zu stellen. Und für Anfang 2011 werde ich in Berlin einen Agrarministergipfel einberufen, der sich mit Fragen des Agrarrohstoffhandels und der globalen Ernährungssicherung befasst. Dabei wird auch der Umgang mit Rohstoffspekulationen eine wichtige Rolle spielen. 

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