Wirtschaftsstandort Deutschland Raus aus der Agonie – für eine neue Wirtschafts- und Industriepolitik

Bei der Produktion von Photovoltaikkomponenten ist Deutschland abhängig von Drittländern wie China. Quelle: imago images

Immer mehr Industriestaaten investieren in die Produktion von sauberen Zukunftstechnologien im Inland. Und in Deutschland? Drei Vorschläge für die dringend notwendige politische Debatte.

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Die Regierung der Vereinigten Staaten investiert mit dem Inflation Reduction Act mehr als 350 Milliarden US-Dollar in „Clean Technologies“ wie erneuerbare Energien, Energieeffizienz oder CO2- Speicherung. Ein starkes Zeichen für den Industriestandort USA. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit der Europäischen Union von Drittländern bei eben diesen „Sauberen Zukunftstechnologien“ immens: Bei Photovoltaikkomponenten liegt sie bei bis zu 90 Prozent – im Bereich der Batterien sieht es nicht viel besser aus. Hauptlieferant für Deutschland und Europa ist im Übrigen China, das mit erheblicher staatlicher Unterstützung diese Schlüsselindustrien zu Weltmarktführern gemacht hat.

Deutschland und Europa sind deswegen bei der Klimawende von einem Land mit erheblichen politischen Risiken abhängig. Die Europäische Union hat auf diese Abhängigkeit mit einem Vorschlag für einen „Net-Zero Industry Act“ reagiert, der saubere Zukunftstechnologien fördern soll. Frankreichs Präsident Macron hat in den letzten Wochen die französische Antwort auf die Aktivitäten in den USA und China gegeben, umfangreiche nationale Maßnahmen angekündigt und gemeinsame europäischen Maßnahmen eingefordert. Und Deutschland? Zaghaftes Schweigen, in der Wirtschafts- und Klimapolitik ist man mit anderen Dingen beschäftigt.

Das ist umso beunruhigender da der Industriestandort Deutschland nicht nur bei den „Sauberen Technologien“ unter erheblichem Druck steht. Mangelnde politische Planungssicherheit, zu hohe Abgaben und Lohnkosten und Unsicherheiten im Energiebereich sind die altbekannten Probleme. Eine mittlerweile leider in zu vielen Bereichen viel zu langsame, viel zu analoge und durch überbordende Regelungen und Vorschriften gehemmte öffentliche Verwaltung tut ein Übriges, die Attraktivität des Standorts zu Schwächen.

Zur Person

Zeit für eine starke deutsche Antwort, Zeit für eine Renaissance der Wirtschaftspolitik. Ja, dabei geht es um Steuern, Arbeitskosten und Energiepreise. Das alleine ist aber viel zu wenig – deswegen drei Vorschläge für die dringend notwendige politische Debatte.

Erstens: Wir brauchen eine europäisch abgestimmte industriepolitische Unterstützung gerade der Projekte und Produkte in den Bereichen Klima, Ressourcenschonung und Effizienzsteigerung. Dazu sind beherzte präzise Initiativen der Regierung notwendig. Dazu ist es aber auch notwendig, dass wir uns als CDU/CSU von der Skepsis gegenüber Industriepolitik lösen. Die Industriepolitische Zurückhaltung, die in den vergangenen Jahrzehnten für den Standort Deutschland richtig war, wirft uns heute im Wettbewerb um die besten Industrien und im Kampf um wirtschaftliche Souveränität zurück. Das haben wir im letzten Jahrzehnt bei der Photovoltaik gesehen und das werden wir, wenn wir nicht zügig umsteuern in den nächsten Jahren nicht nur bei den Wasserstofftechnologien sehen.

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Industriepolitik im Sinne einer Standortpolitik heißt weder die Subventionsgießkanne auspacken noch mit Steuergeldern „Europäische Champions“ hochzupäppeln. Sondern es heißt
a) gezielt Stärken am Standort Deutschland mit Forschungsgeldern, Investitionshilfen und durch Mobilisierung von privaten Kapital zu fördern,
b) unfaire Handelspraktiken anderer Länder und Regionen unterbinden,
c) Plattformmonopole regulieren,
d) Abhängigkeiten von Ländern wie China signifikant verringern,
e) konsequent den europäischen Binnenmarkt ausbauen und
f) neue Märkte durch Handelsabkommen erschließen.

Vieles davon liegt im Übrigen in einer Linie mit den Vorschlägen von Frankreichs Präsident Macron. Eine gemeinsame industriepolitische Initiative von Deutschland und Frankreich wäre nicht nur eine gute Möglichkeit das Thema voranzutreiben. Es wäre auch ein Neuanfang für die in letzter Zeit stark abgekühlten deutsch-französischen Beziehungen.

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Zweitens: Eine schnelle, unkomplizierte und flexible Verwaltung ist ein entscheidender Faktor für den Industriestandort Deutschland. Deswegen müssen wir unsere Verwaltung konsequent digitalisieren, entrümpeln und ausreichend mit Fachkräften ausstatten. Es ist ein echter „Neustaat“ notwendig. Für Industrieprojekte im Bereich der sauberen Technologien ermöglicht der Net-Zero Industry Act der Europäischen Union genau diesen „Neustaat“. Denn er schafft eine regulatorische Überholspur.

Das heißt: Aussetzung von Vorschriften, Schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren, einheitliche Ansprechpartner (One-Stop-Shops) und transparentere Informationen. Wir müssen uns in Deutschland nur konsequent an der Ausgestaltung dieser europäischen Initiative beteiligen, bei den Erleichterungen zugreifen, sie zügig umsetzen und auch mal vorangehen, wenn es in Europa zu lange dauert.

Drittens: Die Konzeption und noch mehr die Umsetzung von Wirtschafts- und Standortpolitik – insbesondere im Bereich der sauberen Technologien müssen Chefsache werden. Das gilt für das Bundeskanzleramt und erst recht für das Wirtschaftsministerium. Wir verlieren trotz guter Voraussetzungen als Standort täglich an Boden. Der Bundeskanzler kann mit seiner Richtlinienkompetenz dagegen arbeiten. Er kann und muss sein Kabinett vom Justiz- bis zum Arbeitsminister immer wieder auf das Projekt „Standort Deutschland“ einschwören. Er muss auf Umsetzung drängen und Blockaden auflösen. Der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz muss dringender denn je als Standortminister agieren.



Ich weiß, dass das schwierig ist, weil die Themen Klima und Energie sehr viel Kapazität binden und der Tag auch für einen Spitzenpolitiker endlich ist. Wenn das aber so ist, dann müssen wir hinterfragen, ob ein gemeinsamen Wirtschafts-, Energie- und Klimaministerium wirklich eine gute Idee war. Der Bundestag hat deswegen auch ganz bewusst für dieses Mammutressort zwei Ausschüsse eingerichtet: Einen für den Bereich Wirtschaft und einen zweiten für Klima und Energie. Diese Trennung könnte ein Vorbild für die Bundesregierung sein.

Wir haben hinsichtlich unseres Standortes und unserer Kompetenz in neuen Technologien überhaupt keinen Grund zu verzagen. Denn das Potential ist da. Unsere Forschungseinrichtungen und Universitäten sind gerade bei den sauberen Zukunftstechnologien in vielen Bereichen führend. Eine Vielzahl von Start-up-Unternehmen experimentiert mit neuen Lösungen nicht nur bei regenerativen Energien, sondern auch in der Material- und Fertigungstechnologie. Mittelständische Familienunternehmen aber auch große Technologiekonzerne arbeiten intensiv daran ressourcenschonender und klimaneutraler zu produzieren. Und sie sind dabei oft auch schon sehr weit.

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Wir haben in Deutschland das Potential nicht nur bei den sauberen Zukunftstechnologien im Weltmarkt ganz vorne zu stehen. Wir haben auch das Potential den Industriestandort Deutschland wettbewerbsfähig zu halten. Wir müssen diese Potentiale aber konsequent heben. Unsere Unternehmer, Arbeitnehmer und Wissenschaftler wollen das und können das. Es liegt an uns als Politiker in Regierung und in Opposition, die wirtschafts- und industriepolitische Agonie zu beenden und mit unseren europäischen Partnern die richtigen Rahmenbedingungen für einen starken Standort zu setzen.

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