Erdrutschsieg für Johnson Der Anfang vom Ende des Vereinigten Königreichs?

In seiner Siegesrede am Freitagmorgen gab sich Johnson versöhnlich. Er räumte ein, dass sich die konservative Partei „verändern“ müsse, jetzt, wo auch viele Labour-Wahlkreise für die Tories gestimmt hätten. Quelle: dpa

Boris Johnson hat die Unterhauswahlen klar gewonnen. Doch die wirklich schwierigen Brexit-Verhandlungen haben noch nicht einmal begonnen. Und die Zukunft des Vereinigen Königreichs ist fraglicher denn je.

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Am Ende war das Ergebnis eindeutiger, als es sich in den vielen Umfragen der vergangenen Tage angedeutet hatte: Boris Johnsons konservative Partei hat bei den Unterhauswahlen vom Donnerstag einen Erdrutschsieg eingefahren. Der Brexit wird nun kommen - und das ohne jeden Zweifel. Die Hoffnungen der EU-Befürworter, dass es doch noch eine Umkehr geben könnte, haben sich in Luft aufgelöst. 

Johnsons Tories gewannen 364 Sitze (Stand Freitagvormittag). Labour lag mit 203 Sitzen weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Johnsons simple Botschaft, „Get Brexit Done“, also: setzen wir den Brexit um, scheint funktioniert zu haben: Die Tories gewannen auch im traditionellen Labour-Kernland im Norden Englands zahlreiche Wahlkreise hinzu, die beim EU-Referendum 2016 für den Brexit gestimmt hatten. Johnson hat damit im Unterhaus eine Mehrheit von 78 Sitzen. Es ist die erste große Tory-Mehrheit seit 1987. Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte an, dass er seine Partei bei den nächsten Wahlen nicht mehr anführen werde. 

In seiner Siegesrede am Freitagmorgen gab sich Johnson versöhnlich. Er räumte ein, dass sich die konservative Partei „verändern“ müsse, jetzt, wo auch viele Labour-Wahlkreise für die Tories gestimmt hätten. An diese Wähler gerichtet sagte er: „Sie mögen uns ihre Stimmen nur geliehen haben. (..) Ich werde tagein- und tagaus daran arbeiten, um ihnen recht zu geben und um ihre Unterstützung in der Zukunft zu gewinnen.“ Mit „diesem Mandat und mit dieser Mehrheit“ werde es nun endlich möglich sein, den Brexit umzusetzen. Das sei nun „die unbestreitbare und unaufhaltsame Entscheidung des britischen Volkes“. 

Meint es Johnson ernst und rückt er jetzt von den aggressiven Positionen ab, die er eingenommen hat, seit er sich um den Job des Premiers bemüht? Als konservativer Bürgermeister der ansonsten so weltoffenen und modernen britischen Hauptstadt gab sich Johnson als progressiver Zentrist und wurde dafür im Amt bestätigt. Doch Johnson hat in der Vergangenheit häufig Dinge gesagt, an die er offenkundig nicht glaubt. Es wird sich zeigen müssen, ob er von seiner konfrontativen Art der vergangenen Monate abrücken wird. 

Die Wirtschaft zeigte sich in ersten Reaktionen erleichtert, dass der dreijährige Schwebezustand seit dem EU-Referendum nun endlich dem Ende entgegengeht. CBI-Chefin Carolyn Fairbairn twitterte, Johnson solle sein Mandat dazu nutzen, um den „Kreislauf der Unsicherheit“ zu durchbrechen. Das Institute of Directors erklärte, man wünsche sich „nach Jahren des parlamentarischen Chaos“ eine Regierung, die „klar über die Herausforderungen für Unternehmen ist und ehrgeizig, aber realistisch in ihren Antworten“. Die verhaltene Reaktion hat einen guten Grund: Schließlich strebt Johnson den wohl härtesten ausgehandelten Brexit überhaupt an. Das Land soll die Zollunion und den Binnenmarkt verlassen und wirtschaftlich ganz eigene Wege gehen. Von Kontinuität kann so gesehen keine Rede sein. 

Und es dürfte auch den neuen Tory-Wählerinnen und Wählern bald dämmern, dass Johnsons Brexit-Deal nicht nur kurz noch „in den Ofen geschoben“ werden muss - wie es Johnson während des Wahlkampfs etliche Male behauptet hat -, und schon wäre der EU-Austritt fertig. Tatsächlich steht der schwierigste Teil der Brexit-Verhandlungen noch bevor: die Gespräche über die zukünftigen Beziehungen. Und da hat es sich Johnson mit seiner Ankündigung keinen Gefallen getan, dass alles bis zum Ende der Übergangsfrist Ende 2020 unter Dach und Fach sein müsse. Denn damit stolpert das Land ein weiteres Mal einem ungeordneten Brexit entgegen. 

Die verbliebenen 27 EU-Mitgliedstaaten scheinen jedenfalls nicht gewillt zu sein, sich von Johnson zu einem zügigen Abschluss drängen zu lassen. Laut dem Guardian arbeiten die EU-Staats- und Regierungschefs an einem Communiqué, das besagen soll, man wolle „rasch“ zur nächsten Phase der Verhandlungen übergehen. Eine Absichtserklärung, die Verhandlungen möglichst schnell abzuschließen, soll aber entgegen früheren Berichten in der Erklärung nicht mehr enthalten sein. Stattdessen soll das Dokument die Forderung der EU27-Staaten unterstreichen, dass sich Großbritannien an die Wettbewerbsregeln der EU halten müsse, um ein Handelsabkommen zu bekommen. Das dürfte zum Stolperstein werden: Denn führende Tory-Politiker träumen schon lange davon, das Land in eine riesige Steueroase zu verwandeln, mit Dumping-Steuersätzen, Zollfreigebieten und niedrigen Standards. 

Doch nicht nur mit der EU droht in den kommenden Monaten Ärger. Es wird auch immer fraglicher, ob das Vereinigte Königreich den Brexit in seiner derzeitigen Form überstehen wird. Denn das Wahlergebnis hat die regionalen Unterschiede ein weiteres Mal dramatisch verschärft. Schon beim EU-Referendum haben eigentlich nur England und Wales für den Brexit gestimmt. In Schottland und Nordirland gab es Mehrheiten dagegen. 

In Nordirland haben nun zum ersten Mal mehr pro-irische Nationalisten einen Sitz in Westminster erhalten als Unionisten, die auf einem Verbleib im Vereinigten Königreich beharren. Die Zahl der Nordiren, die sich eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland wünschen, nimmt konstant zu. Johnson hat diese Wiedervereinigung mit seinem Brexit-Deal sogar wahrscheinlicher gemacht: Schließlich würde gemäß seinem Plan eine regulatorische Grenze durch die Irische See verlaufen. Es erscheint derzeit nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis Nordirland mit der Republik Irland wiedervereinigt wird. Angesichts der explosiven Vergangenheit ist allerdings kaum zu erwarten, dass das ohne Spannungen über die Bühne gehen wird. 

Und auch Schottland drängt ab heute stärker den je in die Unabhängigkeit. Denn Johnsons Erdrutschsieg bei den Unterhauswahlen vom Donnerstag spielte sich wie das Leave-Votum beim EU-Referendum nur in England und Wales ab. In Schottland hat die links-nationalistische Scottish National Party (SNP) hingegen vier Fünftel aller Sitze gewonnen. Und das mit einer klaren Forderung nach der schottischen Unabhängigkeit. 

Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon verlangte noch in der Wahlnacht von Johnson ein sofortiges Referendum. „Ich behaupte nicht, dass jede einzelne Person, die gestern für die SNP gestimmt hat, unbedingt die Unabhängigkeit unterstützt“, sagte Sturgeon. „Aber es gibt eine große Unterstützung dafür, dass wir eine Entscheidung über unsere Zukunft haben.“ Die Schotten hätten nicht für die konservative Regierung gestimmt und wollten nicht außerhalb der EU leben. 

Johnson hat bereits mehrfach klargestellt, dass er ein zweites Referendum nicht zulassen werde. Doch er dürfte Schwierigkeiten haben, diese Weigerung aufrecht zu erhalten. Denn die Grundbedingungen haben sich seit dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 dramatisch verändert: Damals hatte die SNP sechs Abgeordnete in Westminster, heute sind es 48. Damals war Großbritannien solider Teil der EU, heute steht es kurz davor, die Union zu verlassen. Auch in Schottland könnte es zu wütenden Protesten kommen - zumal, wenn Johnson die Region gegen ihren Willen Ende Januar mit dem Rest des Vereinigten Königreichs aus der EU führt.

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