EU-Gipfel Kann Merkel als Siegerin abreisen?

Angela Merkels politisches Schicksal hängt vom EU-Gipfel ab Quelle: AP

Für die Bundeskanzlerin steht beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs viel auf dem Spiel. Sie braucht einen Erfolg in Brüssel, um innenpolitisch überleben zu können.

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Es wird ihr 75. EU-Gipfel, und noch nie hing Angela Merkels politisches Schicksal so sehr vom Ausgang eines Treffens in Brüssel ab. Wenn Angela Merkel an diesem Donnerstag mit den anderen 27 EU-Staats- und Regierungschefs nach Brüssel kommt, geht es um ihre Zukunft. Können sich die Anwesenden auf ausreichend Maßnahmen in der alles entscheidenden Flüchtlingsfrage verständigen, damit Merkel als Siegerin zurück nach Berlin reisen kann?

Merkels Vertraute betonen, dass sie unter Druck zu Hochform aufläuft. Von Hochform war sie bei den vergangenen EU-Gipfeln allerdings weit entfernt. Seit der Bundestagswahl im vergangenen Herbst kam jedes Mal eine sichtbar physisch erschöpfte Merkel zu den EU-Gipfeln, deren Körpersprache eine sehr deutliche Botschaft aussendete. Hier betrat nicht mehr die Königin von Europa den Raum, sondern eine, die um ihr politisches Überleben kämpfen muss.

Natürlich wird der ein oder andere diesmal Schadenfreude empfinden ob des sichtlichen Machtverlusts der einst als übermächtig empfundenen Kanzlerin. Gleichzeitig wissen alle Versammelten, dass Merkels Fall Europa führungslos machen würden. In der aktuellen Lage, mit einem US-Präsidenten Trump am anderen Ende des Atlantiks, ist dies keine erfreuliche Aussicht. „Im Raum sitzen lauter Profis, die wissen, dass sie andere bei innenpolitischen Problemen unterstützen müssen“, sagt ein EU-Diplomat.

Ökonomen warnen vor "schwerwiegenden, nicht abschätzbaren Folgen"
Die Koalitionäre sollten "das Ziehen roter Linien unterlassen und sich zusammenraufen", sagte der Präsident des Industrieverbands BDI, Dieter Kempf, vor der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung Düsseldorf. Er wünscht sich, dass die Koalitionäre in Berlin den Umgang untereinander ändern. Es gebe genügend Zukunftsthemen für das Regierungsbündnis aus CDU, CSU und SPD, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Reuters. Dazu gehöre unter anderem die Europäische Union. Der französische Präsident Emmanuel Macron wäre Kempf zufolge froh, wenn er in der Debatte um Reformen in Europa einen starken Partner Deutschland an seiner Seite wissen würde. Quelle: imago images
"CSU und CDU haben sich für ihr Fingerhakeln einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht", sagte Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW). "Deutschland kann sich gerade jetzt keine Regierungskrise leisten." Angesichts des Handelsstreits mit den USA, Kriegen und Krisen in aller Welt sowie der ungelösten Euro-Krise brauche Deutschland Stabilität. "Eine Regierungskrise würde die Konjunkturaussichten weiter eintrüben und damit Wachstum gefährden." Er schätzt, dass Grenzkontrollen die Wirtschaft „15 Mrd. Euro kosten“ würden. Vor zwei Jahren hatte Ohoven allerdings noch gefordert: "Wir brauchen Grenzkontrollen." Denn die Kosten durch Kontrollen seien „ein relativ geringer Betrag verglichen mit den bis zu 700 Milliarden Euro, die uns die Flüchtlinge langfristig kosten können." Quelle: imago images
"Angesichts der vielen großen Herausforderungen von außen rächt es sich, dass die Kanzlerin in den vergangenen drei Jahren zum Thema Migration keine klare Linie in den eigenen Reihen der Union herbeigeführt hat", sagte der Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, Reinhold von Eben-Worlée der Nachrichtenagentur Reuters. Falls die CSU nicht nur die Fraktionsgemeinschaft verlasse, sondern auch die Koalition, gäbe es verschiedene Möglichkeiten, auch ohne Neuwahl weiter zu regieren. "Aber alle sollten sich darüber bewusst sein, dass die Konjunktur ihren Höhepunkt überschritten hat, dass Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verliert und dass Handelskriege, europäische Grenzsicherung und die Bekämpfung von Fluchtursachen sehr viel Geld kosten werden", sagte von Eben-Worlée. Quelle: imago images
Lars Feld, Professor für Wirtschaftspolitik und Mitglied des Sachverständigenrat der Bundesregierung Quelle: imago images
"Der Streit um Geflüchtete schafft signifikante wirtschaftliche Risiken", sagte Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gegenüber der Süddeutschen Zeitung. "Ein deutscher Alleingang bei Geflüchteten wäre ein fatales Signal an Europa und könnte dazu führen, dass andere europäische Regierungen eigene Alleingänge starten werden." Schon in der Vergangenheit sei Berlin durch Alleingänge aufgefallen in Europa, etwa bei der Energiewende. "Das darf sich nicht wiederholen." Die Bundesregierung müsse auf Italien zugehen und die neue Regierung in Rom davon überzeugen, eng zusammenzuarbeiten, sowohl bei Geflüchteten als auch bei der Wirtschaftspolitik. Quelle: imago images
"Auch wenn der Handel oft als das größte Risiko für die deutsche Wirtschaft genannt wird, sehen wir die Innenpolitik eher als ein viel größeres Risiko", sagte der ING-Diba-Chefökonom Carsten Brzeski gegenüber dem Handelsblatt. "Die nächsten zwei Wochen könnten die politische Landschaft in Deutschland dramatisch verändern und im schlimmsten Fall sogar zu einem Sturz der Regierung und Neuwahlen führen." Für die Wirtschaft würde dies weitere Verzögerungen bei dringend benötigten Investitionen und Strukturreformen sowie der Stärkung der Währungsunion bedeuten. Quelle: imago images
Handwerks-Präsident Hans Peter Wollseifer, warnte in der "Süddeutschen Zeitung" vor "nicht abschätzbaren, schwerwiegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen", sollte die Regierung zerbrechen. In Deutschland dürfe "macht- und parteipolitisches Taktieren nicht Oberhand gewinnen". Quelle: imago images

Auf welches Ergebnis kann Merkel im besten Fall hoffen? Für sie ist es wichtig, dass der Gipfel das Signal setzt, dass die EU-Staaten in der Flüchtlingspolitik tatsächlich an europäischen Lösungen arbeiten. Konkret wollen die versammelten Chefs eine Vielzahl von Maßnahmen besprechen, um die Migration in den Griff zu bekommen. EU-Ratspräsident Donald Tusk schlägt Aufnahmezentren außerhalb der EU vor, die gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und der Internationalen Organisation für (IOM) aufgebaut werden sollen. Tusk hält dies für einen Weg, das Geschäftsmodell der Schmuggler zu zerstören. Wie und in welchem Rechtsrahmen diese Zentren funktionieren ist unklar.

Diplomaten gehen davon aus, dass der Gipfel den Auftrag erteilen wird, dass ein Arbeitskreis konkrete Vorschläge dazu arbeitet. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob etwa eine Vereinbarung, wie die EU sie mit der Türkei abgeschlossen hat, mit anderen nordafrikanischen Staaten realistisch wäre. Der niederländische Ministerpräsident Marc Rutte hatte angeboten, in einer kleinen Gruppe mit anderen Regierungschefs Gespräche mit Ländern zu führen, die in Frage kommen. Bisher kursieren noch keine Namen von Ländern - was kein Zufall ist. Die Europäer wollen die Gespräche diskret führen. Diplomaten weisen darauf hin, dass sich nordafrikanische Länder nur auf solche Deals einlassen, wenn sie dafür Geld bekommen, Marktzugang bei landwirtschaftlichen Produkten und Einreiseerleichterungen für ihre Bürger in die EU.

Tusk will die EU-Ausgaben für Migration künftig bündeln und dafür sorgen, dass die Ressourcen flexibler eingesetzt werden. Bisher sind die Gelder in unterschiedlichen Ressorts verstreut.

Beim Gipfel werden die Staats und Regierungschefs auch darüber sprechen, den Grenzschutz schneller als bisher geplant aufzustocken. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger hatte dies im Zusammenhang mit der mittelfristigen Haushaltsplanung ohnehin schon vorgeschlagen. Nun geht es darum, die Agentur Frontex schon früher zu verstärken.

Merkel kann als Erfolg verbuchen, dass die Arbeit an der Reform der Dublin-Verordnung nun doch fortgesetzt werden soll. Zwischendurch sah es so aus, als ob die Verhandlungen auf Eis gelegt würden, weil keine Aussicht auf Einigung bestand. Die Dublin-Regeln legen bisher fest, dass Länder, in denen Flüchtlinge zum die EU betreten, zuständig für ihr Asylverfahren sind. Dieses System ist unfair, weil Länder wie Griechenland und Italien eine ungleich größere Last als Länder ohne EU-Außengrenzen tragen. Die Bundesregierung dringt darauf, dass eine Quote dafür sorgt, dass Flüchtlinge umverteilt sind. Zahlreiche osteuropäische Länder wie Ungarn lehnen dies nach wie vor entschieden ab. Die Bundesregierung kann sich vorstellen, dass Länder ihre Solidarität auch durch verstärkte Grenzkontrollen zeigen können. Aber nach Berlins Vorstellungen müssen alle Länder auch Flüchtlinge aufnehmen.

Wird der Gipfel den Streit zwischen CSU und CDU schlichten? Am Schluss weiß Innenminister Horst Seehofer am besten, ob die Gipfelschlussfolgerungen „wirkungsadäquat“ sind, wie er es fordert. Merkel könnte helfen, dass EU-Gipfel einem Grundprinzip folgen. Alle sollen als Sieger vom Platz gehen können.

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