




2016 begann damit, dass viele vor einem Scheitern der Europäischen Union warnten. Dann kamen neue Terroranschläge, das Brexit-Referendum, der Wahlsieg Donald Trumps und Putins Triumph und das humanitäre Desaster in Syrien. Am Ende dieses Jahres ist klar: Inzwischen geht es um mehr als ‘nur’ die Zukunft Europas. Es geht um den Westen insgesamt.
Zur Person
Roland Freudenstein ist Policy Director des Wilfried Martens Centre for European Studies, der parteinahen Stiftung der Europäischen Volkspartei in Brüssel.
Der Westen – das steht natürlich für griechische Philosophie, römisches Recht, 2000 Jahre jüdisch-christliche Kultur, und darauf aufbauend vor allem: die Aufklärung und damit Menschenrechte, Demokratie und Gewaltenteilung: All das, was unsere offene Gesellschaft ausmacht, was 1989 den ideologischen Wettstreit gewonnen zu haben schien und sich zu einem weltweiten Siegeszug anschickte. Das ist zwar real keine 30 Jahre her, aber gefühlt könnte es auch ein Jahrhundert sein.
Wer aber bedroht nun den Westen? – Da sind zunächst die äußeren Herausforderungen, die sich über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte langsam aufgebaut haben: islamistischer Fundamentalismus (nicht nur Terror), autoritärer Kapitalismus (in China), und ein immer aggressiveres Russland, das tief in unsere Gesellschaften hineinreicht.
Was in den letzten Jahren aber dazukam, ist das Gefühl einer inneren Aushöhlung des Westens, die mit dem Wort Populismus nur unzureichend beschrieben werden kann. Denn hier geht es nicht nur um eine Vertrauenskrise der politischen und wirtschaftlichen Eliten und den Erfolg extremistischer Parteien. Hier geht es auch um eine strukturelle Wirtschaftskrise, den Wandel politischer Prozesse durch Soziale Medien, und natürlich die drohende innere Schwächung der beiden Organisationen, die den Westen am stärksten verkörpern: der EU (durch Brexit und Nationalismus), und der NATO (durch Trump und eine Tendenz zum Appeasement).
Was könnte 2017 also passieren? – Zwar wird die NATO im nächsten Jahr genauso wenig verschwinden wie die EU 2016. Die Mitgliedstaaten der EU werden auch am Ende des nächsten Jahres Demokratien sein. Dennoch könnte es sein, dass die spürbaren Veränderungen für Europa 2017 noch weitaus dramatischer ausfallen als die im vergangenen Jahr. Wahlen stehen an in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland. Im Moment, glaubt man den Umfragen, scheint es unwahrscheinlich, dass Geert Wilders oder Marine Le Pen an die Macht kommen oder Angela Merkel abgewählt wird.
Aber Umfragen lagen auch im Falle des Brexit-Referendums und der US-Präsidentenwahl daneben. Und unvorhersehbare Ereignisse wie große Terroranschläge, oder russischer Einfluss, können Wahrscheinlichkeiten ins Wanken bringen. Der größte anzunehmende Unfall in dieser Reihe wäre wahrscheinlich ein Sieg Marine Le Pens in den französischen Präsidentenwahlen – möglicherweise das Ende des Euro und auf mittlere Sicht auch das Ende der EU. Auch eine EU mit François Fillon und ohne Angela Merkel wäre wesentlich geschwächt, nicht zuletzt gegenüber Putins Russland. Dabei ist die These, Angela Merkel sei nun die Führungsfigur der Freien Welt, leicht übertrieben. Aber dass alle verfügbaren Alternativen im Kanzleramt der Zukunft des Westens abträglich wären – daran sollte eigentlich kein Zweifel bestehen.
Die größte Unbekannte steckt aber in der zukünftigen Außenpolitik Donald Trumps: Deren Inhalte und Prioritäten sind noch nicht mit Sicherheit erkennbar. Fest steht, dass für Trump alle Beziehungen der USA zu anderen Nationen ‘transactional’ sein müssen, sich also in konkretem Nutzen für Amerika auszahlen. Trump könnte außerdem der erste US-Präsident sein, dem die grundlegenden Werte des Westens egal sind. Fest steht aber auch, dass Trumps Regierung, nach allen bisherigen Personalentscheidungen, von höchst gegensätzlichen Personen und Tendenzen geprägt sein wird, und daher möglicherweise von starken inneren Konflikten.
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Das größte unmittelbare Risiko für Europa steckt in einem großen Deal Trumps mit Putin, auf Kosten vor allem der Ukraine und der östlichen Mitglieder von EU und NATO. Viele Beobachter weisen auf den jeweiligen Neuanfang hin, den schon George W. Bush und Barack Obama mit Putin in Angriff nahmen – und der dann in kurzer Zeit von Letzterem zunichte gemacht wurde. Allerdings könnte die Sache dieses Mal anders ausgehen: Sowohl Bush als auch Obama waren letzten Endes von Werten geleitet und sahen den Westen als erhaltenswert an – das könnte bei Trump anders sein. Jedenfalls hätte ein ‘neues Jalta’ unabsehbare Folgen für die östliche Nachbarschaft der EU, in der sich Korruption und Autokratie auf Dauer installieren würden, und für die EU und NATO, in denen sich der Osten jeweils vollkommen allein gelassen fühlen würde. Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass Putin bei einem solchen Erfolg seine direkten Eingriffe in die Politik der Demokratien Europas plötzlich unterlassen würde.
Allerdings werden die USA nicht vom Präsidenten allein regiert. Und gerade in den Beziehungen zu Russland stehen einem neuen Jalta nicht nur etliche seiner Kabinettsmitglieder und Berater entgegen – z.B. der designierte Verteidigungsminister Mattis – sondern auch eine große Mehrheit aus Republikanern und Demokraten in beiden Häusern des Kongresses.
Wie kann der Westen also zumindest ansatzweise zu neuer Stärke finden? Was muss passieren, damit 2017 nicht zu dem Horror-Jahr wird, das viele befürchten?