Fragen und Antworten Ist das jetzt schon der Brexit?

Der Brexit ist da – doch es ändert sich erstmal nichts. Quelle: AP

Großbritannien hat die EU verlassen. Das Brexit-Thema hat sich nun ein für alle Mal erledigt – oder etwa nicht? Was kommt jetzt? Eine Übersicht über die wichtigsten Fragen.

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Nach einem jahrelangen Hickhack und mehreren Verschiebungen ist es jetzt soweit: Großbritannien hat am Freitagabend nach 47 Jahren die Europäische Union verlassen. Zunächst wird sich allerdings nicht viel ändern. Denn es tritt sogleich eine Übergangsphase in Kraft, die bis mindestens Ende dieses Jahres andauern soll. Großbritannien bleibt im europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion, und auch an der Freizügigkeit für EU-Bürger ändert sich nichts. Sie können weiter in Großbritannien leben, arbeiten, studieren und sich (falls sie schlechtes Wetter mögen) zur Ruhe setzen. Briten können dieselben Rechte innerhalb der EU wahrnehmen.

Allerdings wird Großbritannien nach dem EU-Austritt nicht mehr in den politischen Institutionen der EU vertreten sein. Auch im Europaparlament werden keine britischen Abgeordneten mehr sitzen.

Wofür braucht es die Übergangszeit?

Vermutlich Ende Februar oder Anfang März sollen die Gespräche über die zukünftigen Beziehungen beginnen. Und die werden es in sich haben: London und Brüssel müssen sich auf die Bedingungen eines Freihandelsabkommen verständigen. Das wäre an sich schon eine Mammutaufgabe. Doch es müssen zahlreiche weitere Dinge geklärt werden: Wie sollen die Fischereirechte gehandhabt werden? Welche Form von Kooperation wird es bei der Sicherheit und beim Austausch von Daten geben? Wie wird sich der kulturelle und akademische Austausch gestalten?

Wie lange sollen diese Verhandlungen dauern?

Boris Johnson hat erklärt, dass die Übergangszeit, die am 31. Dezember dieses Jahres endet, auf keinen Fall verlängert werden soll. Theoretisch müssen bis dahin sämtliche Abkommen stehen. Doch das ist ausgesprochen unrealistisch. Die Verhandlungen über die Handelsabkommen der EU mit Kanada haben sieben Jahre gedauert. Und dieses Abkommen geht in Sachen Marktzugang lange nicht so weit wie die Mitgliedschaft im europäischen Binnenmarkt, die Großbritannien derzeit genießt. Zum 1. Juli müsste es schon eine Einigung bei den Fischereirechten geben. Bis dahin müsste London theoretisch auch bekanntgeben, ob es die Übergangszeit verlängern möchte. In der Praxis könnte die EU allerdings auch später einer Verlängerung zustimmen.

Was, wenn bis Ende des Jahres nicht alles geregelt ist?

Es ist relativ wahrscheinlich, dass bis Ende des Jahres nur einige grundsätzliche Dinge geregelt sind und die Verhandlungen in der Zeit danach fortgesetzt werden. Es droht wieder ein No-Deal-Szenario, das auch schon die Verhandlungen über das Scheidungsabkommen überschattet hat. Das könnte schwere Konsequenzen für die Wirtschaft und für den Handel haben – etwa dann, wenn nach dem Ende der Übergangszeit Grenzkontrollen und Zölle notwendig werden sollten. Wirtschaftsvertreter drängen daher darauf, dass dieses Szenario vermieden wird.

Was werden die Knackpunkte bei den Verhandlungen sein?

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von Sascha Zastiral



Es ist noch nicht klar, was sich die Regierung von Boris Johnson von den zukünftigen Beziehungen erhofft. Innenminister Sajid Javid sorgte allerdings kürzlich für einen Aufschrei, als er erklärte, dass Großbritannien nach dem Ende der Übergangszeit nicht länger den EU-Regeln und EU-Standards folgen werde. Die EU hat im Gegenzug klargestellt, dass es nur dann einen relativ reibungslosen Handel zwischen Großbritannien und den EU27-Staaten geben könne, wenn Großbritannien kein „Dumping“ betreibt. Sollte London etwa die Umweltauflagen und Arbeitnehmerrechte zurückfahren oder Produktstandards senken, dürfte die EU London einen reibungslosen Zugang zum europäischen Binnenmarkt verweigern. Aus gutem Grund: Britische Hersteller hätten dann gegenüber ihren europäischen Konkurrenten einen ungerechten Vorteil.

Die Fischereirechte sind ein weiterer wunder Punkt: Brüssel dürfte den freien Zugang zu britischen Gewässern für europäische Fischer zu einer Grundbedingung für ein Handelsabkommen machen. London hat bereits erklärt, dass man dem nicht zustimmen wird.

Bei den Gesprächen um ein Scheidungsabkommen gab es viel Hickhack um Nordirland. Ist das vom Tisch?

Nordirland könnte wieder zum Problem werden. Johnson hat den quälend langen Engpass bei den Gesprächen über das Scheidungsabkommen zwar überwunden, indem er zugestimmt hat, die regulatorische und Zollgrenze nach dem Ende der Übergangszeit faktisch in die Irische See zu verlegen. Das würde allerdings Kontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien erforderlich machen, falls sich London und Brüssel nicht auf eine Lösung verständigen, die diese Kontrollen überflüssig macht. Doch nun beharrt Johnson darauf, dass es keine Kontrollen geben soll. Das dürfte für Streit sorgen.

Was wird sich in Zukunft für die EU-Bürger in Großbritannien ändern?

Zunächst bleibt alles beim Alten. Doch Johnsons Regierung möchte den freien Zuzug für EU-Bürger sofort nach dem Ende der Übergangszeit beenden – also nach aktuellem Stand zum nächsten Jahr. Johnson und Co. schwebt ein punktbasiertes Einwanderungssystem nach dem Vorbild Australiens vor, bei dem höher qualifizierte Einwanderungswillige bessere Aussichten haben sollen, ein Aufenthaltsrecht zu erhalten als beispielsweise Arbeiter. Die Rede ist auch von einem Mindesteinkommen, das Einreisewillige nachweisen sollen. Die Höhe dieses dann erforderlichen Einkommens ist allerdings unklar. Ausnahmen soll es etwa im Gesundheitssystem geben, das auf ausländische Arbeiter angewiesen ist. Die neuen Regelungen könnten Branchen wie das Gastgewerbe oder die Landwirtschaft schwer treffen, die ebenfalls auf Arbeiter aus den EU-Staaten angewiesen sind.

In Großbritannien mangelt es in vielen Branchen an Fachkräften. Auf viele Unternehmen käme dann – sollte die Regierung an ihren Plänen festhalten – ein regelrechter Papierkrieg mit den Behörden zu, falls sie weiter EU-Bürger anstellen wollen. Die damit verbundene Unsicherheit dürfte viele dieser EU-Bürger dazu veranlassen, sich lieber Jobs in anderen Ländern zu suchen. Großbritannien müsste dann aktiv Arbeiter in anderen Teilen der Welt anwerben, etwa in Südasien oder Afrika. Das wäre nicht ohne eine gewisse Ironie: Denn dann kämen mehr von jenen Menschen ins Land, an denen sich die Befürworter von Einschränkungen bei der Einwanderung stören.

Droht der Zerfall des Vereinigten Königreichs?

In Schottland ist der Ärger über den Brexit groß. Denn dort hat beim EU-Referendum eine deutliche Mehrheit – 62 Prozent – für den Verbleib gestimmt. Die Rufe nach einem zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendum werden immer lauter. Ein solches Referendum gab es bereits 2014. Damals hat noch eine Mehrheit von 55 Prozent für einen Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Diesmal dürfte das Ergebnis deutlich knapper ausfallen. Doch ein solches Referendum kann nur dann abgehalten werden, wenn London zustimmt. Und Boris Johnson hat seine Zustimmung kategorisch ausgeschlossen.

Das könnte für zunehmenden Unmut in Schottland sorgen, vor allem dann, wenn der Brexit für Komplikationen in der schottischen Wirtschaft sorgt. Die Unterstützung für eine schottische Unabhängigkeit könnte dadurch steigen. Sollten sich bei den Wahlen zum schottischen Regionalparlament im kommenden Jahr die schottischen Nationalisten klar durchsetzen und London ein Referendum weiter verweigern, könnte es zu großen gesellschaftlichen Verwerfungen kommen.

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