Gegenbuchung oder Kredit? Darum streiten Ökonomen über Target-Salden

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Kein direkter Zugriff auf die Sicherheiten

Ökonomen streiten aktuell darüber, ob und welche Risiken sich mit den Target-Salden verbinden. So kritisiert Hans-Werner Sinn, dass das Target-System im Zusammenspiel mit den nationalen Zentralbanken den Krisenländern die Möglichkeit bietet, eigenständig Geld zu schöpfen, das dann von den Bürgern und Unternehmen dieser Länder benutzt wird, um Güter und Vermögenstitel in anderen Euroländern zu erwerben. Ähnlich sieht es Frank Westermann, VWL-Professor an der Universität Osnabrück. Seiner Ansicht nach spiegeln die Target-Verbindlichkeiten "den Anteil des gedruckten Geldes wider, mit dem im Ausland Vermögenstitel wie Aktien, Staatsanleihen oder Immobilien gekauft wurden sowie um Kredite zurück zu zahlen. Im Gegenzug wurden Sicherheiten hinterlegt auf die die Bundesbank keinen direkten Zugriff hat".

Wann ist eine Target-Forderung "uneinbringlich"?

Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der EZB, schrieb daher in einem Buchbeitrag zur Target-Diskussion bereits im Jahr 2015: „Scheidet ein Defizitland aus dem Euro aus, dürften sich diese Forderungen (der EZB, Red.) als weitgehend uneinbringlich erweisen. Der Verlust ist dann von den verbleibenden Notenbanken des Eurosystems entsprechend den Kapitalanteilen zu tragen.“

Dagegen stellen nach Ansicht von Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die Target-Salden keine Gefahr, sondern eine Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Währungsunion dar. „Das Target-System hat es deutschen Banken möglich gemacht, knapp 500 Milliarden Euro aus anderen Euroländern seit 2008 abzuziehen, ohne dabei Verluste zu machen. Wir machen uns nicht bewusst, dass wir Deutschen die Profiteure sind.“, sagt Fratzscher. Ohnehin erlebte Deutschland im Falle eines Euroaustritts eine massive Krise, da die Arbeitslosigkeit stiege und die Einkommen sänken. Daher wären in diesem Fall „die Target-Forderungen wirklich die letzte Sorge, die ich hätte“, so Fratzscher in einem kürzlichen ausgestrahlten Fernsehbeitrag.

Ähnlich argumentiert Hellwig. Die Bundesbank sei eine Art Filiale der EZB, die geldpolitische Operationen im Rahmen des Eurosystems wahrnimmt. „Wiese man diese Filialtätigkeit bilanziell bei der EZB aus, so erübrigte sich die Diskussion“, sagt Hellwig.

Euro-Austritt: ein hypothetischer Fall

Im Kern geht es bei dem Streit also um die Interpretation des Charakters des Eurosystems – und um die Frage, ob dieses jemals auseinanderbricht. Während Fratzscher und Hellwig die Target-Salden lediglich als Reflex technischer Buchungsvorgänge eines auf ewig angelegten Zentralbanksystems interpretieren, betonen die Kritiker, dass sich hinter den akkumulierten Salden im Falle eines Auseinanderbrechens der Eurozone milliardenschwere Belastungen für  die Steuerzahler insbesondere in Deutschland verbergen.

Die Bundesbank selbst hält sich in der Diskussion bedeckt. Auf Anfrage der WirtschaftsWoche teilt sie mit, dass „der Austritt eines Landes aus der Währungsunion ein in der Öffentlichkeit diskutierter hypothetischer Fall ist, bei dem sich Teile der negativen TARGET2-Salden in bilanzwirksamen Risiken manifestieren könnten“. Und: „Erst wenn man eine Restforderung für uneinbringlich hielte, entstünde bei der EZB durch deren Abschreibung ein bilanzwirksamer Verlust“. Dieser könnte dann anteilig von der Bundesbank getragen werden.

Die Diskussion über die Target-Salden bleibt bestehen

Die Frage ist nur: Wann hält die EZB eine Forderung für uneinbringlich?  Denkbar ist, dass die Target-Salden im Falle eines Euroaustritts Gegenstand politischer Verhandlungen werden.

In diesem Fall könnten die Target-Verbindlichkeiten zu einem Faustpfand des austretenden Landes werden. Denn irrelevant sind die Target-Salden in einem solchen Falle nicht. Das zeigt auch die Antwort von EZB-Chef Mario Draghi auf die Anfrage von zwei Europaabgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien im vergangenen Jahr: „Sollte ein Land das Eurosystem verlassen, müssten die Forderungen oder Verbindlichkeiten seiner nationalen Zentralbank gegenüber der EZB in Gänze beglichen werden“.     

Damit dürfte Eines klar sein: Tritt ein Land aus der Eurozone aus, werden die Target-Salden nicht nur unter Ökonomen, sondern auch unter Politikern für heftigen Streit sorgen.

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