Großbritannien und die EU Der sanfte Brexit wird unwahrscheinlicher

Seite 2/3

Konservatismus hat Kapitalismus besiegt

Die Liberalen Demokraten, die einzige klar für den Verbleib eintretende Partei, könnte in Zukunft zwar zulegen, bleibt aber für die große Mehrheit der Briten unattraktiv. Daher sind die Tories nun in einer historisch einzigartig vorteilhaften Situation. Außerdem haben sie aus dem augenfälligen Chaos nach dem 23. Juni gelernt und stehen, nach außen hin, ziemlich geschlossen hinter Theresa May. Die Premierministerin hat relativ freie Hand. Aber sie beginnt natürlich zu ahnen, was jetzt auf sie zukommt: es dürfte wirtschaftlich abwärts gehen und deswegen politisch ungemütlich werden, und sie muss eine Verhandlungsstrategie auf den Tisch legen, die eine interne Einigung voraussetzt. Sie erlebt tagtäglich, wie zerstritten die Tories hinter den Kulissen weiter sind: zwischen den ‘harten’ Austrittsbefürwortern um Austrittsminister Davis und Außenhandelsminister Fox einerseits und den wenigen verbliebenen Gemäßigten um Schatzkanzler Philipp Hammond.

Gerade wegen dieser absehbaren politischen Zerreißproben hat sie auf dem letzten Tory-Parteitag programmatisch die Flucht nach vorn angetreten und handstreichartig politisches Territorium sowohl von UKIP als auch von Labour besetzt. Zum Entsetzen vieler Briten begann sie, von der Wirtschaftselite als “Staatenlose” (citizens of nowhere) zu sprechen. Das mehrfach wiederholte Mantra von den Reichen als Steuerbetrügern war ein weiteres Beispiel. Gleichzeitig kam von der Wirtschaftsministerin der Vorschlag, Firmen müssten ausländische Angestellte melden, damit man unpatriotische Unternehmer an den Pranger stellen könne. Demgegenüber klangen die Zusicherungen Mays, weiter und jetzt erst recht auf ein “global orientiertes Großbritannien” hinzuarbeiten, ziemlich hohl. Der von vielen ersehnte Druck der Finanzwelt in der Londoner City auf die Regierung könnte weniger effektiv ausfallen als erwartet.

Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Jürgen Habermas könnte Recht haben mit seiner Feststellung, am 23. Juni hätte der Konservatismus den Kapitalismus in dessen Ursprungsland besiegt. Die britischen Konservativen sind dabei, sich als Partei des nationalen und sozialen Ressentiments neu zu erfinden. Wenn sie diese ideologische Volte schaffen, haben sie die Chance auf eine unangefochtene Dominanz in der Parteienlandschaft. Wenn sie sich zerlegen oder als Verräter am Austritt erscheinen, werden sie von radikaleren Kräften an die Wand gedrängt. Das macht eine rationalere Regierungsposition beim Brexit so schwierig.

Auch das Urteil des High Court von dieser Woche ändert daran nichts: Eine Parlamentsbeteiligung an der Austrittserklärung bedeutet zwar, dass das Zieldatum des 31. März 2017 für das Abschicken des Briefes an Brüssel praktisch nicht mehr zu halten ist. Aber natürlich wird das Unterhaus der Austrittserklärung nach Artikel 50 des EU-Vertrages zustimmen, weil die Mehrheit - inklusive vieler Labour-Abgeordneter - nicht dem Volkswillen vom 23. Juni widersprechen will. Das House of Lords kann die Sache dann noch verzögern, aber nicht mehr verhindern.

Hinzu kommt: Trumps Wahlsieg stärkt die Brexit-Hardliner. Das Treffen mit Farage war ein klares Zeichen.

Andererseits bedeutet Trumps Präsidentschaft, dass Europa in Zukunft nicht mehr so selbstverständlich wie bisher auf US-Sicherheitsgarantien zählen. Um auch sicherheitspolitisch stärker zu werden, brauchen wir eine enge Partnerschaft zu Großbritannien. Das europäische Interesse an einem sanften Brexit ist also jetzt erst recht groß

Die Verhandlungen werden also Mitte 2017 beginnen. Wahrscheinlich wird man zunächst ein Interimsabkommen schließen müssen, weil zwei Jahre kaum ausreichen, um alles auszuhandeln. Natürlich stellt sich schon für diesen Zwischenschritt die alles überragende Frage: Wie löst man das Dilemma zwischen Marktzugang und Freizügigkeit? Und hier zeigen die 27 verbliebenen Mitgliedstaaten eine Einmütigkeit, die im Sommer noch nicht alle erwartet hatten, schon gar nicht in London. Alle 27 Mitgliedsstaaten, Deutschland erst recht, haben schon klargemacht, dass sie hier eine eindeutige Position vertreten: Voller Marktzugang für Großbritannien nur bei voller Freizügigkeit für EU-Bürger.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%