Großbritannien und EU May ist beim Brexit noch längst nicht am Ziel

Großbritannien: Beim Brexit noch längst nicht am Ziel Quelle: REUTERS

500 Seiten Scheidungsvertrag und eine kurze politische Erklärung: Auf Beamtenebene haben sich die EU und Großbritannien nun zwar auf ein Brexit-Abkommen geeinigt, doch die größten Hürden müssen noch genommen werden. In London stehen dramatische Tage bevor.

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Mehrere schwarze Limousinen fuhren am Dienstagabend vor der 10 Downing Street vor. Premierministerin Theresa May hatte einige ihrer wichtigsten Minister eingeladen, einen ersten Blick auf die Dokumente zur werfen, die ihr Chefbeamter Ollie Robins und Sabine Weyand, die Stellvertreterin von EU-Chefunterhändler Michel Barnier, in den letzten 48 Stunden fertig ausgehandelt hatten. Damit steht – erstmals seit der Volksabstimmung im Sommer 2016 – ein Entwurf, der nach 40-jähriger Mitgliedschaft die Austrittsmodalitäten Großbritanniens aus der Union festschreibt.

Was in dem rund 500 Seiten dicken Scheidungsvertrag und in der kurzen politischen Erklärung über die Zukunft des Verhältnisses von Großbritannien und der EU genau steht, ist bisher noch nicht bekannt. Der Text enthält aber Pläne für eine mehrmonatige Übergangsfrist nach dem offiziellen Brexit-Termin im nächsten März und einen Lösungsvorschlag für die heikle Frage der irischen Grenze, über die bis zuletzt heftig gestritten worden war. Beide Seiten scheuen sich von einem Durchbruch zu sprechen, denn vor der Unterzeichnung müssen noch große Hürden genommen werden.

So müssen die Regierung und das Parlament in London sowie die Regierungen in den übrigen 27 EU-Staaten dem Entwurf noch zustimmen. Und in Großbritannien melden sich bereits die Kritiker, darunter Ex-Außenminister Boris Johnson und Ex-Brexitminister David Davis, lautstark zu Wort. Johnson wirft May vor, Großbritannien zum Vasallen der EU zu degradieren. An den Finanzmärkten allerdings wurden die Nachrichten aus Brüssel und London begrüßt: Das Pfund stieg am Mittwochmorgen im asiatischen Handel auf knapp 1,30 Dollar.

Bis zuletzt hatten die Unterhändler auf beiden Seiten vor allem um Formulierungen gerungen, um eine sogenannte „harte“, also befestigte Grenze mit Schlagbäumen und Kontrollen, zwischen der Republik Irland und der britischen Region Nordirland zu vermeiden, ohne gleichzeitig eine Grenze zwischen Nordirland und dem restlichen Vereinigten Königreich zu ziehen. Mit dem Brexit verläuft künftig die einzige Landesgrenze zwischen dem Drittland Großbritannien und der EU just quer durch die irische Insel, was Waren- und Zollkontrollen erforderlich machen würde. Das aber soll vermieden werden, um das Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998 nicht zu gefährden. Schließlich hatten sich die Vertreter der britischen und irischen Regierungen sowie der Parteien in Nordirlands damit nach vielen Jahrzehnten auf ein Ende des Bürgerkriegs auf der Insel geeinigt. Gleichzeitig aber ist es ausdrückliches Ziel der Regierung in London und der nordirischen Unionisten, die Zugehörigkeit Nordirlands zum restlichen Vereinigten Königreich in keiner Weise in Frage zu stellen.

Dem Vernehmen nach einigten sich die britischen und die EU-Unterhändler nun auf eine Lösung, die vorsieht, dass das gesamte Vereinigte Königreich bis zum Abschluss eines Freihandelsvertrags mit der EU in der Zollunion bleiben würde. Ergänzt wird dieser Kompromiss durch eine Notfallregelung, den sogenannten Backstop. Der sieht vor, dass die britische Region Nordirland alleine Mitglied in der Zollunion und im Binnenmarkt bliebe, wenn bis zum Ende der bis Ende 2020 anvisierten Übergangsfrist nach dem britischen Austritt kein Freihandelsabkommen ausgehandelt werden kann.

Auf dem Weg zum sanften Brexit? Was der „Durchbruch“ bedeutet

Strittig war in diesem Zusammenhang bis zuletzt ob London einseitig das Recht eingeräumt werden sollte, die Notfallregel aufzukündigen, um die Integrität des Vereinigten Königreichs zu bewahren. Nun sieht es so aus, als hätten sich beide Seiten auf einen paritätisch besetzten Ausschuss geeinigt, der bei Bedarf über die Zukunft des Backstops entscheiden soll. Außerdem wurde angeblich vereinbart, dass dieses Gremium sechs Monate vor dem Ende der Übergangsfrist entscheiden wird, ob diese eventuell nochmals um ein Jahr verlängert werden sollte. Damit wäre Großbritannien de facto noch bis Ende 2021 Mitglied der EU – allerdings ohne Stimmrecht. Eine Situation die nicht nur für die Brexitiers sondern auch für die pro-Europäer kaum erträglich erscheint, da sie London zum Befehlsempfänger machen würde.

May droht heftiger Streit in ihrem Kabinett

So versuchte May am Mittwoch stundenlang, ihr Kabinett auf Linie zu bringen. Um 15 Uhr kam ihr Kabinett zusammen, um über Annahme oder Ablehnung des Vertragsentwurfs zu entscheiden. Für May gilt es hierbei die erste wichtige Hürde zu nehmen: Es droht der Showdown mit ihrer Ministerriege. Doch ob das Kabinett das Abkommen annehmen wird, ist nach wie vor offen. Über die Ergebnisse der Kabinettsberatung will May am Donnerstag im Parlament eine Erklärung geben.
Bei der Sitzung dürfte es turbulent zugehen: Mehrere Kabinettsmitglieder, darunter Brexit-Minister Dominic Raab, Handelsminister Liam Fox und Innenminister Sajid Javid sollen schon im Vorfeld große Vorbehalte angemeldet haben. Es kursieren gar Gerüchte, dass fünf oder sechs Minister mit Rücktritt drohen werden. Nicht auszuschließen, dass neben den harten Brexitiers, wie Raab und Entwicklungsministerin Penny Mordaunt, auch einige pro-Europäer den Entwurf ablehnen könnten. Schließlich hatte Ex-Verkehrsminister Jo Johnson, Bruder des schillernden Boris und ein überzeugter Verfechter der britischen EU-Mitgliedschaft, Ende vergangener Woche mit der Begründung das Handtuch geworfen, er könne einen Kompromiss, der Großbritannien schlechter stellen würde als der Status Quo, nicht mittragen.

Deshalb könnte es sehr eng werden für Theresa May. Gelingt es ihr nicht, ihrem Kabinett die Unterstützung für ihren Plan abzutrotzen, dann wäre der Scheidungsvertrag nicht nur Makulatur sondern möglicherweise auch ihre eigene politische Karriere als Premierministerin am Ende. Eine Meuterei ihres Kabinetts könnte nämlich drei Folgen haben: eine erneute Überarbeitung des Entwurfs durch die Beamten, den Sturz der Premierministerin und sogar Neuwahlen.

Der nun vorliegende Austrittsvertrag ist allerdings auch mit Zustimmung des Kabinetts noch keineswegs unterschriftsreif. Fast noch größer ist nämlich die nächste Hürde. Denn ob May ihn erfolgreich durchs Parlament bekommt ist ebenfalls äußerst ungewiss. Als Premierministerin einer Minderheitsregierung ist sie dort dringend auf die Unterstützung der zehn Abgeordneten der nordirischen DUP angewiesen. Deren Fraktionschef Nigel Dodd hatte allerdings bereits Zweifel angemeldet, dass er und seine Parteifreunde den Entwurf akzeptieren werden. Zwar hatte die DUP bisher noch keine Gelegenheit ihn zu lesen, aber sie befürchtet, dass in der nordirischen Provinz nach dem Brexit künftig Vorschriften, Bestimmungen und Kontrollen gelten könnten, die von denen im restlichen Großbritannien abweichen.

Lautstarke Kritik kommt auch aus Mays eigener Partei – von den Euroskeptiker unter Führung des Erzbrexitiers Jacob Rees-Mogg. Der erklärte noch am Dienstagabend, er sei so unzufrieden, dass er May seine Unterstützung versagen werde. Beobachter schätzen, dass bis zu 20 Rebellen unter den euroskeptischen Tories seiner Empfehlung folgen werden. Möglicherweise werden aber auch einige europafreundliche Konservative May die Gefolgschaft aufkündigen.

Alles in allem benötigt die Regierungschefin 320 Stimmen, um den Brexit-Vertrag vom Parlament absegnen zu lassen. Da die schottischen Nationalisten mit ihren 35 Abgeordneten geschlossen dagegen stimmen wollen, wird May unter Umständen darauf angewiesen sein, dass sie einige abtrünnige Labour-Politiker auf ihre Seite ziehen kann. Ob ihr das gelingt? Labours Schattenbrexitminister Keir Starmer will unbedingt erreichen, dass May Großbritannien dauerhaft in einer Zollunion mit der EU bleibt und Oppositionschef Jeremy Corbyn will May eigentlich eine Niederlage beibringen um Neuwahlen zu erzwingen. So ist bisher offen, wie Labour sich bei der Abstimmung verhalten wird.

So oder so hoffen Brüssel und London nun, dass ein EU-Sondergipfel am 25. November möglich sein wird. Für die Unternehmen aber ist entscheidender, dass der Scheidungsvertrag noch vor Weihnachten vom britischen Parlament abgesegnet wird und damit Gewissheit besteht, dass im bilateralen Handel mit Großbritannien auch nach dem offiziellen Austrittstermin am 29. März 2019 für eine Übergangsperiode von mindestens zwanzig Monaten die Bedingungen der Zollunion und des Binnenmarktes gelten. Viele Unternehmer haben ihre Notfallpläne für einen No-Deal-Brexit nämlich schon auf dem Schreibtisch und spätestens ab Weihnachten wären sie gezwungen diese dann auch umzusetzen.

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