1645 Tage ist es her, dass die Briten beim EU-Referendum dafür gestimmt haben, die EU zu verlassen. Nur noch eine Woche dauert es bis zum Ende der Brexit-Übergangsfrist. Schon seit Tagen hört man von allen Seiten, die lange festgefahrenen Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU befänden sich auf der Zielgeraden. Am Donnerstagnachmittag dann kommt über das Twitter-Konto des britischen Premiers die Bestätigung. Und das in typischer Boris Johnson-Manier: Man sieht ein Foto von Johnson, wie er beide Arme hochgerissen hat, beide Daumen deuten nach oben, begleitet von dem Text: „The deal is done“ – der Deal ist abgeschlossen.
Kurze Zeit später tritt Johnson in seinem Regierungssitz in der Downing Street vor die Kameras. Er wirkt ein wenig müder als sonst, aber energiegeladen. In seinem typischen Johnson-Stakkato haut er binnen weniger Minuten sämtliche Floskeln heraus, die man in dieser Rede erwartet hätte: Alles, was während des Referendums vor vier Jahren und vor den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr versprochen worden sei, liefere das Abkommen. Großbritannien habe sich „die Kontrolle zurückgeholt“ über sein Geld, seine Grenzen, Gesetze, seinen Handel und Fischgründe. Seine Regierung habe „das bislang größte Handelsabkommen“ unterzeichnet, das den Handel in einem Umfang von 660 Milliarden Pfund regele, erklärte Johnson. In den Bereichen, in denen Großbritannien „weltweit führend“ sei, könne London nun seine eigenen Standards festlegen, etwa in den Biowissenschaften und im Finanzsektor.
Der Deal sei auch „gut für Europa“ versichert Johnson, da durch ihn auch Standards auf dem europäischen Festland gesichert würden. Sollte eine Seite den Eindruck bekommen, die andere wolle sie unterbieten, könne man „als souveräne Gleichberechtigte“ durch ein Schiedsverfahren Maßnahmen in die Wege leiten, um „seine Verbraucher und Unternehmen zu schützen“, sagt Johnson. Damit gibt er einen Hinweis auf die Lösung für das Problem mit dem „level playing field“, das die Verhandlungen lange aufgehalten hat.
Großbritannien wolle eine „Wissenschafts-Supermacht“ werden, sagt Johnson, dabei aber auch „gemeinschaftlich“ vorgehen. Das Abkommen werde Gewissheit bieten für den Flugverkehr, für Spediteure, für den Grenzschutz und für die Sicherheit. Es sei ein Moment von „immenser“ Bedeutung.
Das 2000 Seite lange Abkommen sieht eine Fortsetzung des zollfreien Handels mit Gütern vor, wenn Ende des Monats die Brexit-Übergangsfrist endet. Bis eine genaue Auswertung aller Punkte vorliegt, dürfte es wohl Tage dauern. Aber es behandelt in jedem Fall Regelungen, die von der Zusammenarbeit bei der Atomenergie über den Fischfang bis zum Luftverkehr reichen.
Die Einigung kommt für London keine Minute zu früh. Die britische Wirtschaft ist wegen der verhunzten Antwort von Johnsons Regierung auf die Coronapandemie so stark eingebrochen wie in keiner vergleichbaren Industrienation. Bislang sind rund 70.000 Menschen in Großbritannien im Zusammenhang mit dem Virus gestorben – so viele, wie in kaum einem anderen Land. Ein weiterer strikter, landesweiter Lockdown droht. Im Süden des Landes ist das Virus zuletzt derartig aus dem Ruder gelaufen, dass sich eine neue Covid-Variante durchsetzen konnte, die Experten zufolge noch ansteckender sein soll. In London ist diese Variante Forschern zufolge mittlerweile für den Großteil der Infektionen verantwortlich.
Aus Sorge davor haben in den vergangenen Tagen Dutzende Länder weltweit ihre Verkehrsverbindungen nach Großbritannien gekappt, unter anderem Frankreich. Vor Dover, dem wichtigsten Fährhafen des Landes, stauen sich deswegen tausende LKW. Ein Corona-Schnelltestprogramm, das noch am Mittwoch begann, soll den ins Stocken geratenen Warenverkehr wieder in Gang bringen. Dennoch dürften die Unterbrechungen noch bis ins kommende Jahr andauern – wenn sogleich Unterbrechungen wegen des Brexits drohen. Großbritannien stolpert somit weitgehend isoliert in seine neue gewonnenen Brexit-Freiheit.
So sehr Premier Johnson das Abkommen anpreist, feiert er doch einen eher zweifelhaften Sieg: Denn im Kern haben sich London und Brüssel auf ein Abkommen geeinigt, das die Barrieren zwischen beiden Seiten erhöhen wird, wenn es in Kraft tritt. Denn während Johnsons Vorgängerin Theresa May noch den Verbleib in einem gemeinsamen britisch-europäischen Zollgebiet angestrebt hat, bestand Johnson darauf, dass Großbritannien sowohl den europäischen Binnenmarkt als auch die Zollunion verlassen müsse – alles unter dem Leitmotiv der „Souveränität“, die das Land von der EU zurückgewinnen wolle. Für die Wirtschaft hat das handfeste Folgen: Britische Unternehmen und Spediteure werden geschätzt rund 400 Millionen weitere Zollerklärungen im Jahr einreichen müssen. Dabei fehlen auf britischer Seite derzeit noch geschätzt 50.000 Zollbeamte, um diesen bürokratischen Kraftakt zu bewältigen. Die jährlichen Kosten für die britische Wirtschaft werden auf 13 Milliarden Pfund geschätzt.
Das dürfte die britische Regierung dazu zwingen, ihre Unterstützung für britische Unternehmen deutlich auszuweiten. Denn erst kürzlich ist einem 84 Millionen Pfund schweren Regierungsprogramm, das britischen Firmen dabei helfen sollte, den bevorstehenden Papierkrieg besser zu bewältigen, das Geld ausgegangen. Die Steuer- und Zollbehörde HMRC empfahl daraufhin Unternehmen, die keine Gelder aus dem Programm erhalten hätten, unter Umständen Kredite aus dem Corona-Hilfsfonds zu beantragen.
Britische Wirtschaftsvertreter beklagen weitere bürokratische Hürden, die eine weitere Folge des Brexits sind. So wird die europäische CE-Kennzeichnung auf britischen Produkten ab dem kommenden Jahr durch die neue UKCA-Kennzeichnung ersetzt werden. „Das ist eine regulatorische Anerkennung, die wir britischen Hersteller brauchen, damit wir unsere Waren auf unserem eigenen Markt verkaufen können“, sagte dazu kürzlich Andrew Varga, Geschäftsführer des Sicherheitsventilherstellers Seetru in Bristol. Mehr noch: Die Unternehmen müssten auch noch sicherstellen, dass sämtliche Teile in ihren Lieferketten gemäß der neuen Kennzeichnung regulatorisch anerkannt würden. Und das unter Umständen auch bei Zulieferern im Ausland. „Das ist vollkommen verrückt“, sagte Varga. „Ich bin mir nicht sicher, dass unsere Regierung weiß, was sie da macht.“
Große Hürden für britische Finanzdienstleister
Das wohl größte Manko am Brexit-Deal dürfte sich schon recht bald bei der britischen Wirtschaft bemerkbar machen: Denn Dienstleistungen kommen darin offenbar kaum vor. Dass London diesen Teil der Wirtschaft so wenig berücksichtigt hat, ist erstaunlich. Schließlich machen Dienstleistungen vier Fünftel der britischen Wirtschaft und rund die Hälfte aller Exporte aus. Ohne die Dienstleistungen, bei denen Großbritannien eine stark positive Bilanz verzeichnet, würde das bestehende Außenhandelsdefizit noch gravierender ausfallen. Beim Handel mit der EU betrug dieses im vergangen Jahr geschlagene 79 Milliarden Pfund.
So dürften Finanzdienstleister in Zukunft nicht länger ohne weiteres in der Lage sein, wie bisher in der EU tätig zu sein. Wie wird sich die neue Wirklichkeit, die kommendes Jahr beginnt, auf Buchhalter, Musiker, Verleger, Architekten und Sportler auswirken? Auch Anwaltskanzleien dürften Kunden auf dem europäischen Festland verlieren. Die Bedeutung Londons als führender Finanzplatz dürfte dieses Manko wohl zunächst nicht gefährden. Eine Verlagerung von Jobs an Standorte innerhalb der EU dürfte aber kaum zu vermeiden sein.
Analysten und Kommentatoren dürften den Vertragstext über die Feiertage Zeile für Zeile danach untersuchen, welche Seite in welchen Fragen Zugeständnisse gemacht hat. Allem Anschein nach ist es der EU gelungen, ihre wesentlichen Forderungen durchzusetzen. Brüssel hat es offenbar auch geschafft, britische Versuche, unter den Mitgliedstaaten für Uneinigkeit zu sorgen, zu unterbinden. In jedem Fall dürften britische Regierungsvertreter und Johnsons Unterstützer in den kommenden Tagen versuchen, das Abkommen als großen Sieg für Großbritannien zu verkaufen.
So wichtig ist Großbritannien für Deutschland und die EU
Das Vereinigte Königreich ist seit dem Brexit-Referendum 2016 von Platz fünf auf Platz sieben der wichtigsten Handelspartner Deutschlands gerutscht und wurde etwa von Polen überholt. 2015 - dem Jahr vor dem Referendum - wurden noch Waren im Rekordwert von 89 Milliarden Euro auf die Insel geliefert. 2019 waren es schon zehn Milliarden Euro weniger. Die Importe aus Großbritannien stagnierten in diesem Zeitraum bei rund 38,4 Milliarden Euro.
Über den europäischen Binnenmarkt sind viele deutsche Unternehmen seit Jahrzehnten eng mit Großbritannien verbunden. Etwa neun Prozent der ausländisch kontrollierten Unternehmen in Deutschland haben Muttergesellschaften im Vereinigten Königreich. Diese 3270 Unternehmen beschäftigten in Deutschland rund 312.000 Mitarbeiter, die einen Umsatz von rund 192 Milliarden Euro sowie eine Bruttowertschöpfung von 46 Milliarden Euro erwirtschaften. Umgekehrt werden etwa 1700 Unternehmen in Großbritannien von deutschen Investoren kontrolliert. In diesen Unternehmen sind rund 353.000 Personen tätig, die einen Jahresumsatz von 228 Milliarden Euro erwirtschaften.
2019 wickelte Großbritannien die Hälfte seiner Importe und 47 Prozent seiner Exporte mit den 27 EU-Ländern ab. Damit ist die EU der mit Abstand größte Markt für das Vereinigte Königreich. Für die EU hingegen ist die Insel weit weniger wichtig: 2019 gingen nur vier Prozent der Exporte dorthin, während sechs Prozent der Importe von dorther kamen.
Schottlands Erste Ministerin, Nicola Sturgeon, ließ mit ihrer Einschätzung zu dem Deal hingegen nicht lange auf sich warten. Kurz nach Johnsons Rede erklärte sie, Schottland habe nun „das Recht, seine eigene Zukunft als unabhängiges Land zu bestimmen, und die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft wiederzuerlangen“. Es übersteige „die Vorstellungskraft, dass Schottland inmitten einer Pandemie und wirtschaftlichen Rezession“ aus der EU gedrängt worden sei, fügte die Ministerin hinzu. „Ein Abkommen ist besser als keines“, sagte Sturgeon. Doch der „harte Brexit“, den Johnson gewählt habe, „entfernt so viele der Vorzüge einer EU-Mitgliedschaft.“
Anders als ihre englischen Nachbarn, haben die Schotten beim EU-Referendum mit deutlicher Mehrheit für einen Verbleib in der EU gestimmt. Während der Verhandlungen mit Brüssel haben weder Theresa May noch Boris Johnson Bitten aus Schottland um eine stärkere Einbindung und Forderungen nach einem sanfteren Brexit ignoriert. Das hat im Lauf der Zeit den Wunsch nach einer Loslösung vom Vereinigten Königreich verstärkt. Umfragen zufolge würde sich derzeit eine Mehrheit der Schotten für die Unabhängigkeit aussprechen. In diesem Zusammenhang ist auch eine Abstimmung im schottischen Regionalparlament vom Mittwoch zu verstehen: Dabei stimmten die Abgeordneten dafür, dass sich das schottische Recht in Zukunft weiterhin nach dem EU-Recht richten soll.
In den kommenden Wochen dürfte sich die Kritik aus Schottland darauf konzentrieren, dass Nordirland weiter im Binnenmarkt für Waren und in der Zollunion verbleiben wird – so wie es die EU von Anfang an gefordert hat –, den Schotten aber diese Möglichkeit verweigert wird. Der Konflikt zwischen London und Edinburgh könnte schon bald eskalieren. Denn damit die Schotten über ihre Unabhängigkeit abstimmen dürfen, müsste Johnson seinen Segen geben. Und den dürfte er mit Sicherheit verweigern.
Die Brexit-Hardliner dürften mit dem ausgehandelten Abkommen hingegen zufrieden sein. Denn der EU-Austritt, den Johnson nun ausgehandelt hat, ist in jeder Hinsicht ein harter Brexit: Das Land wird ab dem kommenden Jahr nicht mehr im Binnenmarkt und in der Zollunion sein, und auch die Freizügigkeit für EU-Bürger endet am 1. Januar. Großbritannien untersteht nicht länger der europäischen Gerichtsbarkeit, und mittelfristig wird das Land die Kontrolle über einen Großteil seiner Fischgründe zurückerlangen.
Und so äußerte sich der Rechtspopulist Nigel Farage in einer ersten Stellungnahme überwiegend positiv über den Brexit-Deal. Farage hat als langjähriger Chef der United Kingdom Independence Party (Ukip) die einst abstrus wirkende Idee eines EU-Austritts in den politischen Mainstream gerückt und das EU-Referendum damit erst möglich gemacht. „Boris wird als der Mann gesehen werden, der den Job zu Ende gebracht hat. Vielleicht nicht perfekt, aber im Großen und Ganzen hat er das gemacht, was er gesagt hat“, erklärte Farage. Der „Krieg“ sei nun „in den großen Fragen“ vorbei, warf Farage noch hinterher.
Ob sich die angeblichen Brexit-Errungenschaften angesichts der neu entstandenen Barrieren beim Handel und der unvermeidlich erscheinenden internen Wirren auszahlen werden, steht jedoch auf einem anderen Blatt.