
Der ukrainische Premierminister Arseni Jazenjuk greift gerne zu drastischen Formulierungen. Jüngstes Beispiel: Im Dezember verglich er Wladimir Putin in einem "Spiegel"-Interview mit einem Drogensüchtigen. „Sein Überleben ist abhängig von weiteren Landnahmen auf fremdem Staatsgebiet.“ Annexionen als Sucht – welch ein Gedankengang.
Jazenjuk wird für seine umstrittenen Aussagen international immer häufiger kritisiert. Aber selbst seine Kritiker dürften ihm zu Gute halten: Verklausulierte Aussagen sind bei diesem Mann nicht zu erwarten.
Jazenjuk fordert mehr Geld
Dementsprechend verlief auch Jazenjuks zweitägiger Besuch in Berlin. Die Europäer und Deutschen sollen Kiew politisch noch stärker unterstützen, als schon in den vergangenen Monaten. Und sie sollen weitere Gelder für die wirtschaftliche Stabilisierung zur Verfügung stellen.
Mehr Solidarität und mehr Geld. Diese klaren Ansagen formulierte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Am Mittwochabend im "Tagesthemen"-Interview in der ARD, am Donnerstag beim Mittagessen mit Angela Merkel im Kanzleramt und am Vormittag des gleichen Tages beim Besuch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Beim DGAP-Vortrag wich er jedoch von seinem Konzept ab und sprach zunächst über die Bedeutung des Terroranschlags in Paris. Am Mittwoch hatten mutmaßliche Islamisten in der französischen Hauptstadt zehn Journalisten des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ sowie zwei Polizisten ermordet.
Die Attacke, sagte Jazenjuk, habe die „Narrative komplett verändert“. Im Kampf gegen den Terrorismus müssten Europäische Union, USA und die Ukraine zusammenstehen. Auch sein Land werde von Terroristen bedroht, führte Jazenjuk aus. Gemeint sind die pro-russischen Separatisten im Osten der Ukraine sowie russische Truppen, die de facto eine Teilung des Landes herbeigeführt haben.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Der ukrainisch-russische Konflikt ist komplex, islamistische Terroristen wurden in den ostukrainischen Kriegsgebieten bislang aber nicht gesichtet. Jazenjuk verbindet zwei Themen miteinander, die aus seiner Sicht die gleiche Überschrift tragen: Terrorismus. Inhaltlich haben sie allerdings nichts miteinander gemein.
Warum also diese politische Vermengung? Unity, Einheit, ist das Schlagwort, das der Premier in seinen Reden wieder und wieder verwendete. Er will das engstmögliche Bündnis mit dem Westen. Er braucht diese Einheit, um politisch zu überleben.
Kanzlerin hält sich Teilnahme an Gipfeltreffen offen
Zwar hat der Regierungschef aus Kiew eine Reihe von Reformen angepackt. „Weniger Regierung, weniger Bürokratie und mehr Deregulierung“ waren die Schlagworte, mit denen Jazenjuk seine Reformen in Berlin zusammenfasste. Er selbst gestand aber ein: „All das reicht natürlich noch nicht.“
Und weil er nur langsam Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung macht, braucht er Geld aus dem Westen, um einen Bankrott der Ukraine zu verhindern. Gelingt dies nicht, könnte Jazenjuks Regierung schon bald aus dem Amt gejagt werden. Der neue ukrainische Wirtschaftsminister Aivaras Abromavicius räumte diesen Zusammenhang im Exklusiv-Interview mit der WirtschaftsWoche unverblümt ein.
Kanzlerin Merkel hatte für den ukrainischen Premier aber kaum positive Nachrichten bei dessen Besuch. Ihre Teilnahme für das mögliche Gipfeltreffen am 15. Januar ließ sie weiter offen. Kremlchef Wladimir Putin, der ukrainische Staatschef Petro Poroschenko sowie Frankreichs Präsident François Hollande und Merkel sollen nach dem Willen Kiews in einer Woche über einen Ausweg aus dem Konflikt beraten.
Merkel und Hollande haben aber Zweifel, ob bei einem solchen Treffen Fortschritte erzielt würden und haben daher bislang nicht zugesagt.
Jazenjuk wird indes weiter mit markigen Ansagen für seine Politik werben. „Russland muss einen Preis bezahlen“, forderte er erneut in Berlin. Schließlich habe Moskau mit der Krim-Annexion ein internationales Verbrechen begangen. Gleichwohl: „Einen dritten Weltkrieg will selbstverständlich niemand.“
Das Problem an Jazenjuks Rhetorik: Je mehr er provoziert, desto weniger dringt er mit seinen Botschaften durch.