Lohnstückkosten in Euroländern Wovon der Erfolg der Krisen-Reformen abhängt

In vielen Ländern sind die Lohnstückkosten vor der Schuldenkrise stark gestiegen. Um wieder wettbewerbsfähig zu werden, muss das rückgängig gemacht werden.

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Ein Streik in Spanien Quelle: dpa

Für Angela Merkel ist der Fall klar: "Ich glaube, Portugal ist ein Beispiel dafür, wie sich die Wettbewerbsfähigkeit verbessert hat", lobte die Bundeskanzlerin die Reformanstrengungen der Portugiesen bei ihrem Besuch in Lissabon Mitte November. Weniger klar liegt der Fall allerdings für Ökonomen. Diese streiten derzeit mit Verve darüber, ob in den Peripherieländern der Währungsunion das Glas der Reformerfolge halb voll oder halb leer ist. Optimisten verweisen darauf, dass in vielen Krisenländern die Lohnstückkosten seit einiger Zeit zurückgehen – und werten dies als Zeichen für eine ökonomische Renaissance.

Die Lohnstückkosten gelten als wichtiger Indikator für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Sie errechnen sich aus dem Verhältnis der Arbeitskosten zum realen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Steigt die Produktivität (das reale BIP je Stunde) stärker als die Arbeitskosten je Stunde, sinken die Lohnstückkosten. Das gibt den Unternehmen Spielraum, ihre Absatzpreise zu senken und Marktanteile zu gewinnen.

Spanien senkt seine Lohnstückkosten

Veränderung der Lohnstückkosten und Absatzpreise

Tatsächlich haben einige Krisenländer ihre Lohnstückkosten nach dem Ausbruch der Euro-Krise spürbar gesenkt, nachdem diese in den Jahren zuvor aus dem Ruder gelaufen waren. Beispiel Spanien: Dort legten die Lohnstückkosten nach Berechnungen der Commerzbank von 1999 bis 2008 um 18,3 Prozentpunkte stärker zu als im Schnitt des Euro-Raums. Seit 2009 jedoch gehen sie wieder zurück. Dies hat dazu geführt, dass der Zuwachs gegenüber dem Euro-Schnitt auf nur noch 7,0 Prozentpunkte gesunken ist (siehe Grafik). Damit hat Spanien knapp zwei Drittel seines Verlustes an preislicher Wettbewerbsfähigkeit wettgemacht. In Portugal und Irland waren die Erfolge noch größer, beide Länder haben ihre Verluste zum großen Teil ausgeglichen.

BIP-Deflator stieg bei Spanien besonders stark

Anders sieht das Bild aus, wenn man die Absatzpreise als Indikator für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zugrunde legt und dazu den Deflator für das BIP heranzieht. Dieser spiegelt die Preise aller im Inland hergestellten Güter- und Dienstleistungen wider. Da der BIP-Deflator neben den Lohnkosten auch die Preiswirkungen von Zinskosten und indirekten Steuern erfasst, gilt er als umfassenderer Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit als die Lohnstückkosten. Für Spanien ist er von 1999 bis 2008 um 16,5 Prozentpunkte schneller gestiegen als im Schnitt aller Euro-Länder.

Seither hat das Land nur 2,6 Prozentpunkte des Preisnachteils wieder wettgemacht. Auch für Portugal fällt das Ergebnis ungünstiger aus als bei Betrachtung der Lohnstückkosten. Den am Deflator gemessenen Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit von 7,3 Prozentpunkten hat Portugal nur zu 1,4 Punkten ausgeglichen. Italien hat, gemessen am BIP-Deflator, in den vergangenen Jahren weiter an Wettbewerbsfähigkeit verloren.

Reformerfolge nur ein Zerrbild?

Wo die Schuldenländer schon Erfolge erzielen
Griechenland: Die Lohnstückkosten sinkenStillstand in Griechenland? Nicht ganz. Bei der Sanierung der Staatsfinanzen hat Athen durchaus Erfolge vorzuweisen: Um sechs Prozentpunkte vom Bruttoinlandsprodukt wurde das Haushaltssaldo in nur zwei Jahren verbessert. Eine solche Konsolidierungsleistung hat kein anderes Euro-Land geschafft. Und im ersten Halbjahr liegt Griechenland beim Defizitabbau sogar vor dem Plan. Auch dem Ziel, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, kommt das Land näher: Die Lohnstückkosten sind seit 2009 rückläufig. Aber bei den Strukturreformen, die für eine international konkurrenzfähige Wirtschaft zumindest ebenso bedeutend sind, bleibt noch viel zu tun.
Zwar hat das griechische Parlament seit 2010 Dutzende von Reformgesetzen verabschiedet. Aber es hapert bei der Umsetzung, weil die zuständigen Ministerien die notwendigen Durchführungsbestimmungen schuldig bleiben. Das geschieht weniger aus Nachlässigkeit als gezielt, um die Reformen zu hintertreiben. Denn die Politiker scheuen immer noch die Konfrontation mit den Kartellen, Gewerkschaften und Zünften, die sich gegen eine Deregulierung der Wirtschaft sträuben, weil sie sich dann dem Wettbewerb stellen müssten. Ein Beispiel: Die Öffnung der "geschlossenen Berufe", Hunderter Tätigkeiten, deren Ausübung strikt reglementiert ist, wie der Rechtsanwaltsberuf. Weil die Anwälte im Parlament stark vertreten sind konnten sie die Liberalisierung für ihren Berufsstand bisher verhindern. Manche Reformen ist Griechenland seit über einem Jahr schuldig geblieben. Die Wahlen vom Frühsommer haben das Land weiter in Verzug gebracht. Umso energischer drängen jetzt die Delegationschefs der Troika in Athen darauf, bei den Reformen endlich Gas zu geben.Text: Gerd Höhler, Athen
Italien: Die Erfolge sind sichtbarDie Technokraten-Regierung von Mario Monti hat in Italien innerhalb von neun Monaten mehr Reformen durchgesetzt als Silvio Berlusconi in allen seinen Legislaturperioden zusammen. Gleich nach seinem Amtsantritt im November hatte Monti noch vor Weihnachten das Maßnahmenpaket "Salva Italia" (Rette Italien) durchgepaukt, das jährlich Mehreinnahmen von 26 Milliarden Euro bringen soll. Zudem beschloss das Kabinett innerhalb kürzester Zeit eine Rentenreform, die das früher sehr großzügig ausgestaltete Rentensystem für die kommenden Jahrzehnte auf sichere Beine stellen soll. Es folgten zaghafte Liberalisierungen einiger Berufsstände und schließlich die große Arbeitsmarktreform im Frühsommer: Sie setzt auf mehr Flexibilität bei Einstellungen, ermöglicht aber auch ein leichteres Kündigen.
In Italien, wo die Arbeitslosigkeit im Juni mit 10,8 Prozent auf ein neues Rekordhoch seit 2004 stieg, ist der Arbeitsmarkt bislang zweigeteilt: Während sich ältere Angestellte meist über fast unkündbare Arbeitsverhältnisse freuen können, hangeln sich viele junge Menschen oft von einem befristeten Vertrag zum nächsten. Diese befristeten Verträge liefen in der Krise einfach aus. Diese Zweiteilung soll durch die Reform überwunden werden. Um die ausufernden Staatsausgaben zu drosseln, hat Monti (rechts) eigens den Parmalat-Sanierer Enrico Bondi als Spar-Kommissar an Bord geholt. Er sollte alle Ausgaben auf den Prüfstand stellen. Das Ergebnis: 26 Milliarden Euro sollen innerhalb von drei Jahren eingespart werden. Die Ausgabenkürzungen sind wichtig, da die Regierung nicht ohne Grund in der Kritik steht, bisher vor allem durch Steuererhöhungen den Haushalt saniert zu haben.Text: Katharina Kort, Mailand Quelle: dpa
Portugal: Auf dem rechten WegPortugal macht alles richtig - aber die Euro-Schuldenkrise und die Abhängigkeit von Spanien bergen weiter Risiken. So begründete die Ratingagentur Standard & Poor's den negativen Ausblick für das Land. Ähnlich war der Tenor im Juli bei der vierten Überprüfung des Kreditprogramms durch die Troika. Die portugiesische Regierung unter Premier Pedro Passos Coelho hat in einem Jahr enorm viel erreicht. Steigende Exporte und fallende Einfuhren brachten das Handelsdefizit fast ins Gleichgewicht, das Haushaltsdefizit schrumpfte von fast zehn auf 4,2 Prozent Ende 2011. Auch 2012 sei ein Defizit von 4,5 Prozent machbar, meint die Troika.
Die Arbeitsgesetzgebung wurde reformiert, Arbeitszeit und Löhne wurden flexibilisiert, die Kündigungskosten gesenkt. Nun soll die Regierung auf Geheiß der Troika eine Senkung der Arbeitgeberbeiträge prüfen, um die Beschäftigung zu beleben. Bis September muss Premier Passos Coelho (im Bild zu sehen) zudem die Lohnverhandlungen weiter flexibilisieren. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie wurde teilweise umgesetzt, ein neues Wettbewerbsrecht verabschiedet, diverse Berufe wurden liberalisiert. Der Mietmarkt mit extrem niedrigen fixen Mieten und entsprechend verfallenen Gebäuden wurde dereguliert, eine Reform des teuren, trägen Rechtssystems ist angeschoben. "Wir glauben, dass all diese mikroökonomischen Reformen dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit durch steigende Produktivität statt durch sinkende Löhne verbessert wird", urteilt S&P. Immerhin lag der durchschnittliche Stundenlohn in Portugal mit 12,10 Euro Ende 2011 bereits 41 Prozent unter Spanien.Text: Anne Grüttner, Madrid
Spanien: Das Sparpaket ausgeweitetSpaniens Premier Mariano Rajoy gönnt sich derzeit ein paar Tage Urlaub in seiner Heimat Galizien. Kurz zuvor brach er ein bis dahin geltendes Tabu. Auf die stets eisern verneinte Frage, ob er den EU-Rettungsfonds in irgendeiner Weise anzuzapfen gedenke, antwortete Rajoy nun: "Ich habe keine Entscheidung getroffen, ich werde tun, was im allgemeinen und im spanischen Interesse ist." Er wolle zunächst alle Bedingungen kennen. Rajoy gab damit den Ball an EZB-Chef Mario Draghi zurück, der klargemacht hatte, die bedrängten Südländer müssten zunächst die Anleihekäufe des EFSF aktivieren, bevor die EZB den Rettungsfonds mit eigenen Maßnahmen unterstützen könne.

Sind die Reformerfolge, die sich in den Lohnstückkosten widerspiegeln, also nur ein Zerrbild? Keineswegs. In einer aktuellen Studie kommt Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank, zu dem Ergebnis, dass die Lohnstückkosten dem BIP-Deflator als Indikator überlegen sind. "Langfristig zeigen beide Indikatoren in die gleiche Richtung, aber die Lohnstückkosten laufen dem BIP-Deflator zeitlich voraus." Nicht umsonst verwendeten Ökonomen die Lohnstückkosten in ihren Modellen als Frühindikator für die Prognose der Inflation.

Den Grund für den Vorlauf der Lohnstückkosten gegenüber den Absatzpreisen in den Krisenländern sieht Krämer darin, dass Unternehmen sinkende Lohnstückkosten zunächst nutzen, um ihre Gewinnspannen aufzumöbeln. Erst wenn diese sich nachhaltig stabilisiert haben, beginnen die Unternehmen, ihre Absatzpreise zu senken, um Marktanteile zu gewinnen. "Wer nur auf den BIP-Deflator schaut, läuft Gefahr, Reformerfolge zu spät zu erkennen", urteilt Krämer.

Noch ist kein Reformdurchbruch zu erkennen

Hinzu kommt, dass der BIP-Deflator anfällig für Fehlsignale ist. Sinken die Importpreise für Öl und Gas, erhöht dies den Deflator. Tatsächlich aber haben sich die Kosten für die Unternehmen durch die billigere Energie verringert.

Allerdings: Auch wenn die gesunkenen Lohnstückkosten die Rahmenbedingungen in Portugal, Irland und Spanien verbessert haben, ist ein Reformdurchbruch auf breiter Front in den Krisenländern noch nicht zu erkennen. Das liegt an der desaströsen Lage in Griechenland, aber auch an mangelnden Reformfortschritten in Italien. Anders als in Spanien sind die Lohnstückkosten von Florenz bis Palermo bis zuletzt gestiegen, die Lohnbildung ist nach wie vor starr und zentralisiert. Entsprechend düster fällt das Urteil der Weltbank zu den Rahmenbedingungen für Unternehmen in Italien aus. Diese liegen auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.

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