Von seinem spartanisch eingerichteten Eckbüro im vierten Stock des Frankfurter Japan Centers könnte Stefan Walter den Blick auf das Grün der Gallusanlage genießen. Aber dafür hatte der frischgebackene Generaldirektor der Europäischen Zentralbank (EZB) keinen Blick. Sein neuer Arbeitsplatz lässt jedes Zeichen individueller Gestaltung missen, denn er war voll damit beschäftigt, sein Team zu besetzen. Im Postfach stapeln sich die Bewerbungen. Die Zeit drängt: Anfang November übernimmt die EZB die Aufsicht über die 120 wichtigsten Banken der Euro-Zone, darunter 21 deutsche.
Walter wird im neuen Aufsichtsmechanismus eine Schlüsselrolle spielen, denn er soll sich mit seiner Truppe vor allem um die besonders systemrelevanten unter den direkt von der EZB kontrollierten Banken kümmern. Wie tickt der bisher Unbekannte, der bald eine für die finanzielle Stabilität Europas so wichtige Aufgabe übernimmt? Und was haben die Banken in seinem Verantwortungsbereich von ihm zu erwarten?
Die drei Pfeiler der Bankenaufsicht
Die zentrale Bankenaufsicht („Single Supervisory Mechanism“/SSM) wird unter dem Dach der Europäischen Zentralbank (EZB) eingerichtet und soll am 4. November 2014 die Arbeit aufnehmen. Die EZB wird künftig die etwa 120 größten und wichtigsten Banken im Euroraum direkt überwachen. Vor dem Start durchleuchten die Aufseher deren Bilanzen und testen die Krisentauglichkeit der Institute.
Von 2016 an sollen gemeinsame Regeln zur Sanierung und - im Notfall - Schließung von Banken greifen („Single Resolution Mechanism“/SRM). Erklärtes Ziel ist, dass im Fall der Schieflage einer Bank zunächst deren Aktionäre und Sparer herangezogen werden - und nicht mehr allein der Steuerzahler. Alle Länder sollen Notfallfonds aufbauen, die sich aus Abgaben der Banken finanzieren.
Der grenzüberschreitende Schutz der Bankguthaben von Kunden ist noch Zukunftsmusik. Dagegen gibt es starken Widerstand aus vielen Staaten. Gerade die deutschen Sparkassen und Volksbanken befürchten, dass die üppig gefüllten deutschen Töpfe im Fall von Schieflagen von Instituten in anderen Euroländern geschröpft werden.
Walter wirkt am liebsten im Stillen, der große Auftritt ist seine Sache nicht. Für die Banker, die künftig unter seiner Aufsicht stehen, ist das ein subtiles, aber klares Signal: Hier kommt kein vom Jagdeifer getriebener Bankenschreck im Stile eines Sheriffs der New Yorker Wall Street, die viele Jahre sein Arbeitsplatz war. Bei dem Berkeley-Absolventen und ehemaligen Generalsekretär des mächtigen Basler Ausschusses für Bankenaufsicht haben sie es mit einem lautlosen Jäger und akribischen Aufseher zu tun, der sich Zeit nimmt, genauestens in die Geschäftsbücher zu schauen, um dann in der Sache umso unerbittlicher argumentieren zu können.
Von welcher Aufsichtsphilosophie lässt er sich leiten? „Die Ursache künftiger Krisen werden wir in den von konstanter Innovation getriebenen Finanzmärkten nicht vorhersehen können.“ Daher müsse die Widerstandsfähigkeit des Finanzsektors gestärkt werden, unabhängig davon, woher der Schock komme.
Stoßdämpfer einbauen
Daraus wird klar, dass er in keinen Regulierungswettlauf mit den Banken einsteigen will, bei dem die Aufseher angesichts des Einfallsreichtums der Branche ohnehin den Kürzeren ziehen. Stattdessen will Walter für „Stoßdämpfer“ in Form starker Kapital- und Liquiditätspolster sorgen.
In seinem Job meidet er die Öffentlichkeit. Reden, wie kürzlich bei einem Aufsichtskongress der Bundesbank, hält er selten. Passend zum leisen Auftritt finden sich an Walters Arbeitsplatz nur Schreibtisch, Rechner und Aktenschrank – Bilder oder sonstige Deko Fehlanzeige. Die spartanische Einrichtung dort ist aber nicht nur dem Zeitdruck und der Vorläufigkeit der Unterbringung geschuldet – die Bankenaufseher werden bald in das alte EZB-Gebäude am Willy-Brandt-Platz ziehen –, sondern auch Zeichen des Charakters: Walter konzentriert sich auf seine Aufgabe und investiert keine Zeit in Oberflächlichkeiten und Statussymbole.
Mit seinen ultrakurz getrimmten Haaren strahlt der 49-Jährige Disziplin und Selbstbeherrschung aus. Die unauffälligen schwarzen Socken und Schuhe zum Anzug im gedeckten Grauton signalisieren Understatement. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich der scharfe Blick eines Aufsehers auch für Details bei der Kleidung: das filigrane Muster auf der Krawatte, die goldfarbenen Manschettenknöpfe oder die abgerundeten Kragenspitzen am weißen Businesshemd.
Seine Frau hat Walter in New York kennengelernt, wo sie als Wirtschaftsanwältin arbeitete, Berkeley-Absolventin auch sie. Beide bewohnten dort mit ihren drei Kindern ein Brooklyner Stadthaus mit ortstypischer Backsteinfassade.
Laut offizieller Hierarchie steht er gleichberechtigt neben drei weiteren Generaldirektoren, die Chef-Bankenaufseherin Danièle Nouy aus Frankreich unterstellt sind. Inhaltlich ragt Walter aber heraus, weil er mit seiner Abteilung für die 30 systemisch relevantesten, sprich gefährlichsten, der 120 Banken unter EZB-Ägide verantwortlich ist. Bekommen solche breit vernetzten Großinstitute Probleme, schlägt das schnell auf andere Banken und das gesamte Finanzsystem durch. In Deutschland fällt etwa der Branchenprimus Deutsche Bank in diese Hochrisiko-Kategorie.
Die zentrale Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB jenseits nationaler Zuständigkeiten und Sonderregeln ist der erste Schritt auf dem Weg zur Europäischen Bankenunion. Die soll verhindern, dass nach der Finanz- und Schuldenkrise erneut Steuergeld für die Stützung des Finanzsektors ausgegeben werden muss.
Neben der direkten Aufsicht über die systemrelevanten Kreditinstitute führt die Zentralbank eine indirekte Aufsicht über alle anderen rund 6000 Banken in der Euro-Zone. Dieses Ressort leitet der Finne Jukka Vesala. Hier bleiben in erster Linie die nationalen Aufsichtsbehörden zuständig, in Deutschland also die BaFin in Bonn. Vesalas Leute greifen aber ein, wenn das aus ihrer Sicht zum Beispiel wegen der akuten Schieflage einer Bank nötig wird.
Traumjob und Bewährung
Das soll das neue Aufsichtsregime allerdings von vornherein verhindern. Aber wie? Walter denkt erst und redet dann. Wenn er eine Antwort überlegt, tut er das gründlich, aber schnell. Dafür senkt er kurz den Blick und wirkt dabei für den Bruchteil eines Moments geistesabwesend. Hat er den richtigen Gedanken gefunden, huscht ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht, woraufhin er seinem Gesprächspartner mit einem festen Blick durch die randlose Brille antwortet.
Das Rezept: starke Polster aus Eigenkapital und liquiden Mitteln, eine strenge bankinterne Kontrolle von Risiken sowie Pläne für den Krisenfall. Der letzte Punkt zeigt, dass aus Walters Sicht die zentrale Aufsicht und Prävention die Wahrscheinlichkeit von Bankpleiten nur reduzieren, aber nicht ausschließen kann. „Bei einem Ausfall sind die Folgen für das Finanzsystem zu mindern“, sagt Walter. Die Banken müssen daher Notfallpläne und Konzepte für ihre eigene Sanierung entwickeln.
Walter ist Deutscher, aber in den USA aufgewachsen, wo er auch studiert und lange gearbeitet hat. Als er drei Jahre alt ist, zieht seine aus Freiburg stammende Familie ins kalifornische San Diego, wo sein Vater als Molekularbiologe einen Ruf der dortigen Universität annimmt.
Mit 13 geht es zurück nach Deutschland, doch gleich nach dem Abitur zieht es Walter zurück in die Staaten. Es folgen ein Volkswirtschaftsstudium an der Eliteuniversität Berkeley und der erste Job in der Zentrale der US-Notenbank Fed in New York Anfang der Neunzigerjahre. 15 Jahre lang beschäftigt er sich dort mit Finanzmärkten und der Aufsicht über amerikanische Banken, erlebt den beginnenden Boom verbriefter Hauskredite mit. Das spätere Platzen der Blase und die dadurch ausgelöste weltweite Finanzkrise 2008 kann aber auch seine Fed nicht verhindern.
Den nächsten großen Karriereschritt macht Walter aber schon vorher. Von 2006 bis 2011 leitet er als Generalsekretär den Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, von wo aus er die Reform der internationalen Bankenregeln als Reaktion auf die Finanzkrise koordiniert. Am neuen Regelwerk Basel III, das die Banken weltweit bis 2018 zur kräftigen Aufstockung ihrer Kapital- und Liquiditätspolster zwingt, hat seine Arbeit einen wichtigen Anteil. Laut Wegbegleitern wirkte er dort mit Kompetenz, aber auch Machtbewusstsein, stimmte die Positionen des Ausschusses geschickt mit denen der nationalen Aufsichtsbehörden ab. Seine Kontakte in die Welt der Regulierer und Aufseher hält ein Beobachter für ausgeprägter als seine Drähte zu den Praktikern in den Banken.
Zum Ende seiner Dienstzeit in Basel ist Walter erst Anfang 40. Er wechselt die Seiten und wird Regulierungsexperte beim Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen EY in New York. Dort erklärt er der globalen Mandantschaft aus dem Bankensektor, wie sie am besten mit den strengeren Branchenregeln klarkommt, an deren Entwicklung er selbst einen großen Anteil hatte. Aus heutiger Sicht ermöglicht ihm dieser Seitenwechsel eine bessere Einschätzung, wie die Banken ticken. Ihre Versuche, Schlupflöcher in der Regulierung auszunutzen, dürfte er dank dieser Erfahrung leichter durchschauen. Zudem hat er dort sein Kontaktnetz um wichtige Ansprechpartner in den Banken erweitert.
Auf seinem Posten bei der EZB ist Walter nun wieder in die Rolle des Aufpassers geschlüpft. Die Aufgabe ist Traumjob und Bewährungsprobe zugleich – nicht nur wegen des großen Einflusses, auch wegen der Strukturen, die aus dem Nichts aufgebaut werden müssen. Politik, nationale Aufseher und Banken, sie alle schauen jetzt mit Argusaugen, ob die EZB die historisch beispiellose Aufgabe hinkriegt, die zentrale Aufsicht sicher in die Spur zu bringen.
„Für Walter spricht seine internationale Erfahrung, er sieht die Bankenwelt aber stark durch die US-Brille“, sagt ein ehemaliger deutscher Bankenaufseher, der ihn gut kennt. Ihn präge das Leitbild börsennotierter Banken wie in den USA oder Großbritannien. Als Lobbyist für die Besonderheiten des deutschen Bankensystems mit seinen Sparkassen, Landes- und Volksbanken werde Walter daher sicher nicht auftreten.
Mit der Personalie Walter ist der Notenbank fachlich, aber auch diplomatisch ein geschickter Schachzug gelungen. Seine Berufung befriedet Berlin, das sich bei der Besetzung wichtiger Posten in EU-Institutionen oft unterrepräsentiert wähnt. Gleichzeitig erfüllt Walter wegen seiner internationalen Erfahrungen die kulturellen Anforderungen an das Personal einer EZB, unter deren Dach sich Kollegen aus den unterschiedlichsten europäischen Nationen zusammenraufen müssen.
Man spricht Englisch
Neben Walter sind bei der EZB-Bankenaufsicht noch zwei Deutsche in tragender Rolle an Bord: Sabine Lautenschläger von der Bundesbank fungiert seit ihrer Berufung in den EZB-Rat auch als Vize von Walters Vorgesetzter Nouy. Und Ex-Commerzbanker Korbinian Ibel leitet den Bereich Querschnittsaufgaben bei der EZB-Bankenaufsicht.
Walter hat deutlich mehr Zeit in den USA verbracht als in der Heimat. Fließendes Englisch ist für ihn so selbstverständlich, dass er sich erst daran gewöhnen muss, wieder Deutsch zu sprechen. Mineralwasser mit Kohlensäure bezeichnet er auf die Schnelle als sparkling water. Bei der EZB wird ohnehin intern auf Englisch kommuniziert, und Banken vom Großinstitut bis zur Sparkasse müssen die von den Aufsehern verlangten Dokumente in Englisch einreichen.
Seine Freunde und Verwandten haben übrigens erst im Laufe der Finanzkrise mehr Interesse an Walters Beruf und den davor von Laien als dröge wahrgenommenen Aufsichtsthemen entwickelt. Seit seinem neuen Posten bei der EZB wird er auf Partys vorwiegend danach gefragt, wohin sich wohl die Zinsen entwickeln. Dafür ist Walter nicht der richtige Ansprechpartner, weil die Aufseher von der Geldpolitik getrennt agieren. Er antwortet dann augenzwinkernd, amerikatypischen Brutalo-Humor imitierend: „Wenn ich es dir sagen würde, müsste ich dich umbringen.“