
Immer wieder erstaunlich, wie sich die meinungshabende Klasse in eine zutiefst beleidigte Kaste verwandelt, wenn es einmal nicht so läuft, wie sie es für richtig hält. Viele öffentliche Reaktionen auf das Brexit-Votum der Briten waren, um es höflich zu sagen, verblüffend. Da hieß es, die Dummen und Minderbemittelten, die noch nicht ausreichend Belehrten hätten für den Auszug Großbritanniens aus der EU gestimmt, blöde Landeier, dumpfe Alte, verhockte Asoziale. Da wurde daran gezweifelt, dass Demokratie eine gute Idee sei, über ein Wahlverbot für Ältere nachgedacht oder die Notwendigkeit von Abstimmungen über wichtige Angelegenheiten grundsätzlich infrage gestellt. Man fühlte sich glatt ins 19. Jahrhundert versetzt, als manch kluger Kopf mit ähnlichen Argumenten fürs Dreiklassenwahlrecht optierte.





Menschen, die sich normalerweise hingebungsvoll gegen Diskriminierung und Generalverdacht stemmen, finden nichts dabei, alte weiße Männer (und Frauen) zu diffamieren und ganze Generationen jenseits der 50 mit einem Generalverdacht zu belegen: dass sie nämlich, den Sarg im altersschwachen Auge, nicht mehr an die Zukunft dächten, sondern ihr letzten Erdentage nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ verbrächten.
Lassen wir mal beiseite, dass solche Argumente auch von weißen alten Männern geäußert werden, die sich in den letzten Jahren die allergrößte Mühe gegeben haben, künftigen Generationen einen gewaltigen Schuldenberg zu hinterlassen. Nicht etwa im Sinne von Zukunftsinvestitionen, sondern durchaus wegen recht gegenwärtiger Interessen: um eine Landtagswahl zu gewinnen (Energie“wende“) oder überhaupt wiedergewählt zu werden (kostspielige Wahlgeschenke). Sie dürfen im übrigen darauf setzen, für gegenwärtige Fehlentscheidungen nicht geradestehen zu müssen, aus jenem Grund, den sie den anderen vorhalten: wenn sich die Folgen bemerkbar machen, dürften sie schon ins Grab gesunken sein. Dass ausgerechnet diejenigen sich über die Zukunft der Jungen grämen, denen durchaus nicht daran gelegen ist, dass Eltern höchstpersönlich für die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder vorsorgen, ist besonders grotesk. Kaum etwas ist bei der „Gerechtigkeit dank Umverteilung“-Lobby verpönter als das Erben und Vererben.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Zeugt die Schwärmerei für die „weltoffene“ Jugend womöglich gar von altersspezifischer Vergesslichkeit derjenigen, die sie zur allfälligen Rebellion gegen „die Alten“ auffordern? Wir wollen ihnen nicht unterstellen müssen, dass sie an die Neuauflage der chinesischen Kulturrevolution denken, diesmal in Europa, also: Schlagt sie tot, die Alten, die nicht an die von oben verordnete Zukunft glauben.
Klar, es gibt junge Leute, die sich schon auf der Schule ausrechnen, wie sie einmal eine gute Altersversorgung erzielen. Eine erkleckliche Zahl Wohlstandsverwöhnter aber denkt nicht daran, sich um ihre Zukunft (oder gar die anderer) Sorgen zu machen, sie glauben in der Gegenwart besseres zu tun zu haben als zu Abstimmungen über den Brexit zu gehen. Ihre „Weltoffenheit“ beruht überdies nicht selten auf einem Mangel an schlechten Erfahrungen – oder, freundlicher gesagt, auf einer hinreißenden, lebensfrohen Naivität, die man leider mit dem Älterwerden verliert.