In Zeiten der Schwäche bilden sich Nationen gern etwas ein auf die Stärke ihres Potenzials – und für ehemalige Sowjetrepubliken gilt das ganz besonders. Stark fühlen sich die Russen ob der weltgrößten Gasreserven, die da in ihrem Boden schlummern. Und auch die von der Krise geplagten Ukrainer verweisen dieser Tage auf ihren Rohstoff-Reichtum, von dem sie bislang kaum Kenntnis genommen hatten: Auf dem Grund des Schwarzen Meers schlummern große Mengen Gas, mit deren Förderung sich Kiew unabhängig machen kann von teuren russischen Gasimporten.
Klingt gut, ist auch gut. Doch die ukrainische Führung zieht aus dieser nicht ganz neuen Erkenntnis die falschen Schlüsse: Naftogas-Chef Andrij Kobolew kündigte per Interview an, gegen Russland klagen zu wollen. Seit der Krim-Annexion im März vergangenen Jahres sitzt Moskau offenbar auf einem Teil der Gasreserven – denn die lagern just vor der Küste jener Halbinsel, die auf rechtswidrige Weise nun russisch geworden ist. Jetzt soll sich ein internationales Gericht mit der Eigentumsfrage beschäftigen, schließlich soll es um Rohstoffvorkommen im Wert vieler Milliarden Euro gehen. Erste Explorationsprojekte, die bereits vor 2017 Gas fördern sollten, liegen offenbar momentan auf Eis.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Klar, klagen kann man immer. Die Ukraine hat dazu ein gutes Recht. Doch im konkreten Fall geht es gar nicht ums Gas. Sondern vielmehr darum, eine internationale Institution mit der Klärung von Territorialfragen zu beschäftigen – Fragen, die politisch momentan nicht zu lösen sind. Russland wird die Krim so bald nicht hergeben, daran lässt sich auch über ein internationales Schiedsgericht nicht rütteln.
Ohne internationale Partner geht nichts
Kiew hat weitaus dringlichere Probleme zu lösen. Es braucht ein neues Steuer- und Bodenrecht, ein gänzlich neues Justizwesen, der Kampf gegen Korruption und Bürokratie muss überhaupt erst begonnen werden. Ohne ein drastisch verbessertes Investitionsklima wird sich kein Investor bereit erklären, bei der Förderung der Gasvorkommen als Finanzier oder Technologiegeber mitzufinanzieren. Und so lange sich keine Partner für solch teure und komplizierte Förderprojekte finden, ist die Diskussion über den Gasreichtum eine rein hypothetische.
Ein wesentliches Problem ist überdies Naftogas selbst. Der staatliche Konzern dominiert im ukrainischen Energiesektor Einkauf, Vertrieb, Transport und Förderung von Gas – und frisst reißt dabei ein Loch von neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Haushalt. Ist die Ukraine mal wieder nicht in der Lage, den russischen Gaspreis zu zahlen, dann liegt das am Defizit bei Naftogas.
Die tiefroten Zahlen des Staatskonzerns, die stets über den Haushalt ausgeglichen werden müssen, haben im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens der subventionierte Gaspreis; die Ukrainer fördern viel zu wenig eigenes Gas und importieren viel zu teuer. Doch die Verbraucher erhalten wie zu Sowjetzeiten ihr Gas zu einem Bruchteil der eigentlichen Kosten. Zweitens regieren bei Naftogas hochgradig korrupte Strukturen: Über Scheinrechnungen und anderen Tricks versickern seit Jahren hohe Millionenbeträge.
Ja, die Ukraine ist ein potenziell reiches Land. Aber wenn dieser Reichtum zu Wohlstand führen soll, muss die Politik den Staat gründlich umbauen und die Korruption bekämpfen – sonst kann man sich auch die Klage gegen Russland sparen. Weil das Gas nie gefördert wird.