




Gut eine Woche vor dem EU-Referendum in Großbritannien liegen zwei neuen Umfragen zufolge die Befürworter eines Brexits mit bis zu sieben Prozentpunkten vorn. In einer Meinungsumfrage des Instituts YouGov für die Zeitung „The Times“, die am Dienstag veröffentlicht wurde, sprachen sich 46 Prozent der Befragten für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union aus. Die Brexit-Gegner des „Remain“-Lagers („Bleiben“) kamen demnach auf 39 Prozent, 11 Prozent der Befragten waren noch unentschlossen.
Eine Umfrage des Instituts ICM im Auftrag der Zeitung „The Guardian“ kam zu dem Ergebnis, dass die „Leave“-Kampagne („Rausgehen“) mit 53 zu 47 Prozent führe. Das Lager der unentschlossenen Befragten wurde dabei nicht berücksichtigt. Das Referendum findet am 23. Juni statt.
Britische Gewerkschaftsführer zeigten sich besorgt über die Aussicht eines möglichen Brexits. In einem im Boulevardblatt „Daily Mirror“ veröffentlichten Brief warben sie für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Die Kampagne wurde von Labour-Chef Jeremy Corbyn unterstützt. Der Brexit wäre „für arbeitende Menschen ein Desaster“, hieß in dem Schreiben. Es drohten Entlassungen, niedrigere Löhne und Exportrückgänge.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
In einer Meinungsumfrage des US-Instituts Pew Research waren 52 Prozent der befragten Briten dafür, dass es dem Land - wie anderen Nationen auch - erlaubt werden müsse, sich um die eigenen Probleme zu kümmern. Rund 54 Prozent der Umfrageteilnehmer waren der Ansicht, dass Großbritannien seine eigenen Interessen verfolgen sollte, selbst wenn Verbündete klar dagegen seien. Unabhängig vom Ausgang des Referendums forderten 65 Prozent der Befragten, einige EU-Befugnisse sollten wieder der britischen Regierung übertragen werden.
Die Redaktion der beliebten Boulevardzeitung „The Sun“ sprach sich am Dienstag in einem Kommentar auf der Titelseite für einen EU-Austritt aus. Die Briten sollten sich „vom diktatorischen Brüssel befreien“, hieß es. Der Brexit-Befürworter Nigel Farage freute sich über die Unterstützung. Er sei „überglücklich“, sagte der Chef der rechtspopulistischen UKIP-Partei. Auch das Boulevardblatt „Daily Express“ forderte seine Leser auf, für den Brexit zu stimmen.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Brexit-Sorgen belasten Euro und britisches Pfund
Die Ergebnisse und der damit drohende Ausstieg von Großbritannien aus der Europäischen Union hat infolgedessen den Eurokurs und das britische Pfund belastet. Die europäische Gemeinschaftswährung fiel unter die Marke von 1,12 US-Dollar und wurde am späten Nachmittag mit 1,1191 Dollar gehandelt. Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte den Referenzkurs auf 1,1225 (Montag: 1,1268) US-Dollar festgesetzt. Der Dollar kostete damit 0,8909 (0,8875) Euro.
Das bevorstehende Brexit-Referendum treibt die Anleger damit zunehmend in den Dollar. Ein Austritt hätte laut Experten jedoch für die gesamte EU Folgen. „Anlegern drohen nach einem Brexit Jahre der Unsicherheit“, sagte der Deutschland-Chefstratege Martin Lück vom Vermögensverwalter Blackrock. „Investoren fragen sich dann, wie es mit Europa weitergeht.“ Kapitalströme würden dann aus Europa vor allem in die USA umgelenkt. Dies würde den Dollar zum Euro und zum Pfund weiter stützen.