Von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt Die schwere Last der knappen Mehrheit

Das war knapp: Das EU-Parlament hat von der Leyen an die Kommissions-Spitze gewählt. Quelle: REUTERS

Ursula von der Leyen wird im November als erste Frau an die Spitze der EU-Kommission rücken. Ihr harter Kampf um Stimmen zeigt, dass sie es in den kommenden fünf Jahren nicht leicht haben wird.

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Am Schluss war es knapp. Mit 383 Stimmen holte Ursula von der Leyen am Dienstag nur neun Stimmen mehr als die notwendige Mehrheit. Noch am Morgen hatte die Bundesverteidigungsministerin für ihre Rede im Europäischen Parlament in Straßburg so lautstarken Beifall bekommen, dass sie durchaus auf eine deutlichere Zustimmung hoffen konnte.

Aber geschafft ist geschafft: Ursula von der Leyen wird ab November Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker und als erste Frau an die Spitze der EU-Kommission rücken.

Da die Abstimmung geheim war, können Beobachter bisher nur mutmaßen, wer ihr die Stimme versagt hat. Das Ergebnis legt nahe, dass Abgeordnete ihrer eigenen Fraktion, der Europäischen Volkspartei, nicht für sie gestimmt haben. Liberale und Sozialdemokraten hatten – mit Ausnahme der deutschen Genossen – am Nachmittag angekündigt, die deutsche Kandidatin zu unterstützen.

Mit ihrer Wahl von der Leyens haben die Europa-Abgeordneten das Schreckensszenario abgewandt, in dem die Staats- und Regierungschefs im September einen Alternativkandidaten ins Rennen hätten schicken müssen. Im November, wenn eigentlich der Brexit vollzogen werden soll und US-Präsident Donald Trump europäischen Automobilherstellern mit Zöllen droht, hat die EU-Kommission eine Präsidentin.

Aber wie stark wird sie? Das knappe Ergebnis ist ein schlechter Start für die CDU-Politikerin. Es zeigt, wie schwer es für sie sein wird, Mehrheiten im Europäischen Parlament zu finden, in dem seit der Europawahl im Mai die politischen Blöcke geschrumpft sind. Die Kompromissfindung ist so beschwerlich wie nie zuvor: Wer sich in die eine Richtung bewegt, riskiert, am anderen Rand Stimmen zu verlieren.

Die eigentlichen Herausforderungen stehen von der Leyen erst bevor. Am Dienstag hat sie bewiesen, dass sie sich in extrem kurzer Zeit in EU-Themen weit genug einarbeiten kann, um eine überzeugende Rede zu halten. Das politische Kerngeschäft in Brüssel besteht aber aus der mühsamen Mehrheitsfindung im Europäischen Rat und Parlament. Von der Leyen wird zeigen müssen, wie sehr ihr die Mittlerrolle zwischen Staaten und Institutionen liegt.

Ein erstes Indiz dafür wird die Umsetzung ihrer Versprechen vom Dienstag sein. Zu mehreren Politikbereichen hat sie gleich binnen ihrer ersten 100 Tage im Amt konkrete Maßnahmen angekündigt, etwa zum neuen „Green Deal“: Von der Leyen will die Klimaneutralität bis 2050 in Gesetzesform gießen. Sie wird das vorschlagen können, bei der Umsetzung aber auf dieselben Probleme wie bisher stoßen.

Zur Erinnerung: Erst im Juni hatte eine Gruppe osteuropäischer Staaten, angeführt von Polen, verhindert, dass dieses Ziel im Abschlusskommuniqué des EU-Gipfels explizit auftauchte. Lediglich eine Fußnote fand Platz in dem Dokument. Darin heißt es, dass sich eine Mehrzahl der Mitgliedsstaaten zu dem Ziel bekennt.

Von der Leyen steht ein heißer Herbst bevor

Dies ist nur ein Beispiel. Auch mit anderen Versprechen wird von der Leyen bei den Mitgliedsstaaten auf Widerstand stoßen. In Brüssel vermutet schon mancher Beobachter, dass sie mit ihren Ankündigungen so großzügig sein konnte, weil sie weiß, dass diese ohnehin nicht umgesetzt werden. Bei der Digitalsteuer etwa, die sie einführen will, wenn es bis Ende 2020 keine globale Lösung gibt, benötigt sie Einstimmigkeit. Doch es ist unwahrscheinlich, dass Länder wie Irland oder Schweden ihre Opposition aufgeben werden.

An einer Ansage wird sich von der Leyen schon bald messen lassen müssen. Sie hat ein Team von Kommissaren versprochen, das zur Hälfte weiblich ist. Notfalls will sie, so hat sie es angekündigt, Mitgliedsstaaten auffordern, einen neuen Namen vorzuschlagen, sollten zu viele Männer geschickt werden. Bisher haben zwölf Länder ihren Kandidaten benannt, darunter aber nur drei Frauen. Von der Leyen steuert auf eine Konfrontation mit den Mitgliedsstaaten zu.

Bis zum September muss die künftige Kommissionschefin die Ressorts unter den 27 Kommissaren verteilen. Keine leichte Aufgabe, denn zahlreiche Staaten reklamieren wichtige Bereiche. Sie wird die Zuständigkeiten neu verteilen müssen, weil nicht jeder Ressortzuschnitt in der Vergangenheit funktionierte. So gilt etwa das Ressort Binnenmarkt in seinem jetzigen Zustand als Problemfall.

Im September, so erwarten viele, wird es in Brüssel turbulent. Das Europäische Parlament wird bei den Anhörungen wahrscheinlich gleich mehrere Kandidaten durchfallen lassen. Nur weil die Abgeordneten von der Leyen gewählt haben, heißt das noch lange nicht, dass sie auf Schmusekurs gehen werden. Wenn die Abgeordneten den Daumen für einzelne Kandidaten senken, dann wäre es das klare Signal, dass dieses Parlament sehr wohl weiß, wie es seine Macht ausüben kann.

Und das knappe Ergebnis war eine deutliche Botschaft an die künftige Kommissionspräsidentin, dass sie sich ihrer Sache nicht zu sicher sein kann.

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