Diese Woche haben die Türken wieder einmal Anlass, stolz auf ihre Wirtschaft zu sein. Der Weltkonzern General Electric hat in einer neuen Studie das Innovationspotenzial der Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas einschließlich des OECD-Landes Türkei verglichen – an der Spitze gleichauf liegen Algerien und die Türkei.
Die Istanbuler Tageszeitung „Hürriyet“ zitiert den für die Region zuständigen General-Electric-Topmanager Nabil Habayeb mit den Worten: „Die Türkei hat immer noch viel Wachstumspotenzial, zum Beispiel im Energiesektor und da ganz besonders bei den Erneuerbaren“.
Habayeb, Amerikaner mit arabischen Wurzeln, verheißt der Türkei glänzende Aussichten, freilich unter einer Bedingung: „Viele Leute“ – er meint Investoren – „planen, hier solche innovativen Projekte zu starten – sie werden kommen, solange sie wissen, dass ihre Projekte profitable und sicher sein werden.“
Die Profitabilität ausländischer Investitionen in der Türkei macht offenbar kaum jemandem Sorgen. General Electric betreibt in der Türkei eines seiner weltweit größten Luftfahrtzentren mit 320 Ingenieuren und gewaltigen Wachstumszahlen. Renault und Fiat, Hyundai und Toyota bauen Autos am Bosporus, keineswegs nur für den wachsenden türkischen Markt: Die Automobilindustrie hat schon lange den traditionell wichtigen Textilsektor als größte Branche beim türkischen Export abgelöst.
Und auch wenn es keine Personenkraftwagen made in Turkey gibt, die das Logo eines deutschen Konzerns tragen – die mit Abstand wichtigsten ausländischen Investoren am Bosporus sind die Deutschen mit einem Anteil von zuletzt 18 Prozent an den Neuinvestitionen im Lande.
Wissenswertes über die Türkei
In der Türkei leben rund 77 Millionen Einwohner. Das Bevölkerungswachstum beträgt 1,1 Prozent. 82 Prozent der türkischen Bevölkerung ist jünger als 54.
Das nominale BIP beträgt 767,1 Milliarden US-Dollar. Bis 2015 wird es auf 820,09 Milliarden ansteigen, prognostizieren Analysten. Zum Vergleich: Das deutsche BIP betrug 2013 3,51 Billionen US-Dollar. Die stärksten Wirtschaftszweige der Türkei sind das verarbeitende Gewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, Handel und Land- und Forstwirtschaft, die jeweils rund ein Zehntel zur BIP-Entstehung beitragen.
Die Türkei konnte in den letzten zehn Jahren (2004 bis 2013) mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von unglaublich 4,9 Prozent aufwarten. Die Türkei musste nach der Finanzkrise 2009 eine starke Rezession hinnehmen: Die Wirtschaft schrumpfte um 4,83 Prozent. Nachdem sie in den beiden Folgejahren jeweils um die neun Prozent wuchs, war das Wachstum zuletzt eher enttäuschend. 2012 wuchs sie nur um 2,17 Prozent.
Die Staatsverschuldung der Türkei beträgt 36,4 Prozent des BIP.
Die Inflationsrate liegt 2014 bei 7,8 Prozent. Im folgenden Jahr soll sie Prognosen zufolge auf 6,5 Prozent fallen.
2013 lag die Arbeitslosenquote bei 9,7 Prozent. Bis 2015 soll sie auf 10,6 Prozent ansteigen.
2011 lag der monatliche Durchschnittslohn bei rund 700 Euro – bis 2013 stieg er auf rund 900 Euro an.
Dafür gibt es viele Gründe. Das Freihandelsabkommen der EU mit der Türkei, schon Mitte der Neunzigerjahre abgeschlossen, macht den Handel zwischen den beiden Ländern unkompliziert wie mit keinem anderen Schwellenland. Dann hat der zumindest offiziell ungebrochene Wunsch der Türkei, endlich der Europäischen Union beitreten zu dürfen, zur Anpassung vieler Gesetze und Normen an europäische Standards geführt.
Und wichtiger noch mag die Tatsache sein, dass deutsche Unternehmen in der Türkei mehr als in jedem anderen vergleichbaren Land mit Mitarbeitern arbeiten können, die sich in den zwei doch sehr unterschiedlichen Kulturen gleichermaßen sicher bewegen. In den Jahren des türkischen Wirtschaftsbooms seit 2003 sind immer mehr junge Menschen aus türkischen Migrantenfamilien in Deutschland nach Istanbul oder in die anatolische Provinz gegangen, um dort bei deutschen oder anderen international aufgestellten Unternehmen zu arbeiten – dazu zählten Facharbeiter wie Geschäftsführer und alles Mögliche dazwischen.
Nicht zu vergessen die vielen Angehörigen der türkischen Bildungselite, die in Deutschland studiert oder an einem der deutschsprachigen Gymnasien in Istanbul ihr Abitur gemacht haben, dazu gehört sogar der gar nicht besonders pro-westliche neue Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu. Deutsche Unternehmer können sich darum in der Türkei viel heimischer fühlen als etwa in Indonesien oder Mexiko.
Erfolgsstory mit Dellen
Es gibt weitere Vorzüge. Wie in vielen anderen Schwellenländern auch lockt die prinzipiell sehr unternehmerfreundliche Regierung ausländische Investoren in Gebiete außerhalb der Boomregion Istanbul mit Steuererleichterungen. Der Staat übernimmt dann auch ganz oder teilweise die Sozialabgaben, die für türkische Unternehmen ein Viertel vom Arbeitslohn betragen können.
Das alles ist attraktiv in einem Land mit junger und zunehmend gut ausgebildeter Bevölkerung. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt mit knapp 29 Jahren 13 Jahre unter dem deutschen Wert – wobei der wachsende Wohlstand der vergangenen Jahre dazu geführt hat, dass großer Kinderreichtum aus der Mode kommi und die Bevölkerung nur noch wenig anwächst.
Wohl aber wächst das Qualifikationsniveau: Jährlich verlassen etwa 250.000 Absolventen die türkischen Hochschulen, deren Niveau allerdings teilweise zweifelhaft ist. Immerhin sieben Prozent aller Türken sind inzwischen Akademiker. Und deutsche Manager, die in der Türkei tätig sind, schreiben ihren einheimischen Mitarbeitern fast ausnahmslos Tugenden wie hohe Motivation, Erfolgsorientierung und Entscheidungsfreudigkeit zu.
Eindrucksvolle Liste
Entsprechend heben immer mehr Türken ein anständiges Einkommen. Gewiss: Unternehmen finden auf dem Arbeitsmarkt immer noch Ingenieure für ein Jahresgehalt von umgerechnet 30 000 Euro und Facharbeiter für 13.000 Euro im Jahr. Aber damit ist die Türkei im internationalen Vergleich schon lange kein Billiglohnland mehr, und in Istanbul oder Izmir wird inzwischen meist deutlich mehr gezahlt.
Die Liste der deutschen Unternehmen mit starkem Engagement in der Türkei ist eindrucksvoll. Mercedes Türk ist der größte Lkw-Produzent im Daimler-Produzent, Bosch in Izmir zählt zu den zehn größten Unternehmen der Türkei. Metro betreibt über 700 Großhandelsmärkte im Land, der TÜV Rheinland mehrere Prüfzentren zum Beispiel für die Möbelindustrie, Hugo Boss fertigt in Izmir. Mercedes stattet die Istanbuler Verkehrsbetriebe mit Bussen aus, während durch Ankara Gelenkbusse mit dem MAN-Logo rollen.
Übersicht der Kritik an Erdogan
2008 steht Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit der Opposition im Konflikt um die geltende Trennung von Staat und Religion. Das Parlament kippt auf Initiative der AKP per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Hochschulen. Daraufhin eröffnet das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Eine Million Menschen demonstrieren in Izmir für eine laizistische Türkei. Das Gericht kippt schließlich die Entscheidung des Parlaments zur Aufhebung des Kopftuchverbots. Das Verbotsverfahren gegen die AKP scheitert 2010 aber knapp an der Stimme eines Richters.
Ein ultranationalistischer Geheimbund namens „Ergenekon“ soll versucht haben, die islamisch-konservative Regierung zu stürzen. Viele der mehr als 270 Beschuldigten müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis - darunter Militärs, Politiker und Journalisten. Der frühere Armeechef Ilker Basbug wird im August 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Protestbewegung gegen die Erdogan-Regierung dauert 2013 wochenlang an. Im Mai räumen Polizisten mit einem brutalen Einsatz ein Protestlager im Istanbuler Gezi-Park. Es folgen weitere Proteste in mehreren Städten - vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten. Mehrere Menschen kommen ums Leben, Hunderte werden verletzt.
Die Türkei wird seit Mitte Dezember 2013 von einem Korruptionsskandal erschüttert. Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf die Familien mehrerer Minister. Erdogan sieht eine Kampagne gegen seine Politik und reagiert mit einer „Säuberungswelle“ in Polizei und Justiz, bei der Hunderte Beamte zwangsversetzt werden. Die AKP setzt zudem eine Gesetzesänderung durch, die dem Justizminister mehr Macht geben soll. Das Verfassungsgericht annulliert allerdings im April 2014 teilweise Erdogans Justizreform.
Das Parlament nimmt im Februar 2014 einen Gesetzentwurf der Regierung für eine verschärfte Internetkontrolle an. Demnach dürfen Behörden Seiten auch ohne richterlichen Beschluss sperren. Erdogans Zorn auf soziale Netzwerke hat sich an auf YouTube veröffentlichten Telefonmitschnitten entzündet. Darin war angeblich zu hören, wie er seinen Sohn auffordert, große Geldsummen vor Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen. Im März wird der Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter gesperrt, das Verfassungsgericht hebt die Regierungsentscheidung aber wieder auf.
Die Probleme nehmen zu
Doch die Erfolgsstory hat Dellen. Von 2003 bis 2008 erreichte die Türkei traumhafte Wachstumsraten, die in manchen Quartalen China und regelmäßig alle Länder des EU-Raums übertrafen. Nach einem überdurchschnittlich schlimmen Einbruch in der Krise von 2008/9 erholte sich das Land schnell mit Wachstumsraten bis zu neun Prozent: Ein stabiles Banksystem und eine geringe Verschuldung von Unternehmen und Privatleuten war die Ursache – neben zunehmenden Exporterfolgen Richtung Europa.
Autos, Lastwagen und hochwertige Textilien made in Turkey stammten meistens aus Firmen im ausländischen Besitz, Fernsehapparate und Küchengeräte dagegen aus der Produktion leistungsfähiger einheimischer Unternehmen.
Wirtschaftliche Zukunftsvisionen
Das alles funktioniert aber nicht mehr gut, weil die europäische Konjunktur stottert. Deutliches Zeichen dafür war 2013 der Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen um über vier Prozent auf 12,7 Milliarden US-Dollar. Weil das Land stets mehr Waren und Dienstleistungen einführt als exportiert, führte der Investitionsrückgang zu einer Ausweitung des hohen Zahlungsbilanzdefizits.
Türkische Exporterfolge schlagen makroökonomisch weniger stark zu Buche als Gegeund erhöhten den maßgeblichen Zinssatz für die türkische Lira auf mehr als in anderen Schwellenländern. Für 100 Dollar Exporterlöse muss die türkische Industrie für durchschnittlich 43 Dollar Vorprodukte und Rohstoffe aus dem Ausland importieren: Das Land muss eben seine gesamte Energie importieren und ist auch sonst vergleichsweise rohstoffarm.
Wegen der Zahlungsbilanzmisere zog die Notenbank in Ankara Anfang dieses Jahres die Reißleine und erhöhte den maßgeblichen Zinssatz auf mehr als zehn Prozent. Das verzögerte den chronischen Wertverlust der türkischen Lira gegenüber Euro und Dollar, führte aber auch zum weiteren Schrumpfen des Wirtschaftswachstums. Das liegt nach den letzten offiziellen Zahlen aufs Jahr gerechnet aktuell bei 2,1 Prozent, und die Inflationsrate hält sich trotzdem weiter über neun Prozent.
Illusorische Zukunftsvision
Angesichts der im Vergleich zu den früheren Jahren mauen Wachstumsrate wirkt Recep Tayyips Erdoğans wirtschaftliche Zukunftsvision ganz illusorisch. Der Präsident will sein Land bis 2013 – dann wird die Republik Türkei genau 100 Jahre alt – von Platz 17 unter den Volkswirtschaften der Welt auf Platz zehn bringen; das Bruttosozialprodukt soll dann pro Kopf 25.000 Dollar betragen (heute sind es 14.000).
Natürlich weist der Präsident den Vorwurf zurück, seine eigene Politik habe zu den Wachstumsproblemen von heute beigetragen. Dabei haben sowohl die Bilder vom Tränengaseinsatz gegen friedliche Demonstranten wie die Nachrichten von Korruptionsaffären und außenpolitischen Alleingängen nichts zum Vertrauen wirtschaftlicher Akteure in das Land beigetragen.
Aber Erdoğan und seine Leute wollen all das mit den gewaltigen Infrastrukturplänen konterkarieren, die tatsächlich zu einer wirtschaftlichen Großmacht passen würden, falls sie sich denn realisieren lassen. An erster Stelle steht da noch vor dem gewaltigen Ausbau des Straßen- und Elektrizitätsnetzes der Bau des größten Flughafens Europas in Istanbul und das Projekt eines Kanals zwischen Schwarzem Meer und Marmara-Meer.
Ob der „zweite Bosporus“, der 2023 der Schifffahrt übergeben werden soll, überhaupt realisierbar ist, steht dahin. An Aufträgen aus der Türkei für viele deutsche Unternehmen wird es aber jedenfalls in naher und mittlerer Zukunft nicht mangeln.