„Der Kapitalismus droht unterzugehen“. Diese streitbare These äußerte VWL-Professor Giacomo Corneo in einem Interview mit WirtschaftsWoche Online Mitte April. Ökonomen, Lehrer, Studenten und Leser diskutierten über und mit uns – und baten uns, die Diskussion fortzuführen. Hat Corneo Recht? Ist der Kapitalismus ungerecht und ineffizient und droht das System an Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren? Brauchen wir den Mindestlohn, ein Grundeinkommen, kurzum: mehr Staat?
Guido Hülsmann, Ökonom der Österreichischen Schule, hält die Rufe nach der Politik für falsch. Zwar nennt auch der Professor und Buchautor die zunehmende Ungleichheit in Deutschland „problematisch“, doch in der Ursachenforschung zieht er deutlich andere Schlüsse als Giacomo Corneo und viele Kapitalismuskritiker.
WirtschaftsWoche: Herr Hülsmann, ich möchte mit der gleichen Frage beginnen, die ich auch Herrn Corneo gestellt habe: Sind die Kapitalismuskritiker zu weinerlich? Uns geht es doch gut.
Guido Hülsmann: In einigen Punkten haben die Kritiker durchaus Recht. Ressourcen werden ineffizient verwendet, die Einkommen und auch das Vermögen sind ungleich verteilt. Wobei ich natürlich die Gegenfrage stellen würde: Was meinen die Kritiker mit Ungleichheit? Wenn ich 3000 Euro im Monat vierdiene und mein Nachbar 6000 Euro ist das zwar ungleich, aber möglicherweise auch berechtigt. Vielleicht arbeitet der Nachbar ja auch doppelt so viel. Man kann also nicht einfach auf die Zahlen schauen und daraus moralische Urteile ableiten. Das ist immer schon ein bisschen komplizierter. Und einen weiteren Einspruch habe ich noch: Die Kritik, von der Sie reden, ist überhaupt keine Kapitalismuskritik. Wir leben ja gar nicht in einem kapitalistischen System.
Zur Person
Hülsmann ist ein deutscher Ökonom der Österreichischen Schule und Universitätsprofessor. Er lehrt derzeit an der Fakultät für Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Angers in Frankreich. Darüber hinaus ist er Senior Fellow am Ludwig von Mises Institute in Auburn (Alabama). Hülsmann ist Autor zahlreicher Bücher.
Sondern?
Man kann ein Wirtschaftssystem, indem die Staatsquote bei fast 50 Prozent liegt, kaum ein kapitalistisches System nennen. Das passt in keine Definition. Wir haben in Deutschland eine Soziale Marktwirtschaft mit einem stark interventionistischen Staat. Das verkompliziert die Analyse der Lage. Wir müssen uns also fragen, ob dir Kritikpunkte am Status quo zurückzuführen sind auf einem nicht funktionierenden Markt oder auf die staatlichen Eingriffe.
Lassen Sie uns bitte die Kritikpunkte konkret benennen – bevor wir uns auf die Suche nach Schuldigen und nach Lösungen machen. Der französische Thomas Piketty behauptet in seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ verkürzt: Reichtum ersteht nicht durch Arbeitsaufkommen, sondern durch das Vererben von Vermögen. Lohnt sich Arbeit noch?
Wir sehen sehr deutlich, dass es eine wachsende Kluft in den letzten 40 Jahren gibt zwischen den durchschnittlichen Einkommen auf der einen Seite und den durchschnittlichen Vermögen auf der anderen Seite. Und das sehe ich auch als fragwürdig an. Werden dadurch die Anreize zur Arbeit für einen Großteil der Menschen vernichtet? Das denke ich nicht. Auch ohne die Aussicht mit einem durchschnittlichen Einkommen zu Lebzeiten ein kleines Vermögen anzuhäufen, gibt es Leistungsanreize. Zunächst geht es sprichwörtlich um den Broterwerb und in dem zweiten Schritt um einen gewissen Luxus, der erreicht werden soll. Das ist für einen Großteil der Bevölkerung Anreiz genug. Ich wage die These: Nicht den Geringverdienern und den Menschen mit mittleren Einkommen fehlt es an Motivationsanreizen – sondern den gut ausgebildeten jungen Menschen, der möglichen neuen Elite.
Erweiterung der Geldmenge hat negative Folgen
Das müssen Sie erklären.
Ich rede von den Menschen, die große Ziele haben, die weit hinaus wollen. Junge Leute, die gleichzeitig gut gebildet sind – aber deren Eltern nicht zu den reichsten zehn Prozent des Landes gehören. Sie werden den Sprung nach oben nie schaffen, wenn sich der Status quo verfestigt, wenn die Bundesrepublik ihnen also nicht mehr Aufstiegschancen ermöglicht. Sie haben nur noch drei Möglichkeiten ihren Ehrgeiz zu befriedigen. Entweder sie nehmen eine sehr demütige Haltung an und verzichten auf die Realisierung ihrer Träume zu eigenen Lebzeiten. Oder sie schlagen den kriminellen Weg ein. Ich denke nicht unbedingt an Räuberbanden, aber zum Beispiel an Finanzkriminalität, sprich: Betrug, Steuerhinterziehung. Der dritte Weg ist derjenige, der heute doch eine gewisse Popularität genieß: Den Staat um Hilfe bitten und nach Umverteilung rufen bzw. selber eine politische Karriere einschlagen.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade die junge, gut ausgebildete Elite, die nach Macht und Reichtum strebt, angeblich zum größten Kapitalismus-Kritiker mutiert.
Das ist richtig. Aber auch verständlich. Es staut sich bei den hoffnungsvollen jungen Leuten ein ungeheurer Frust auf, wenn Sie nicht vorankommen und nicht das Niveau erreichen bzw. toppen können, dass ihre Eltern erreicht haben – mit vermeintlich schlechteren Ausgangschancen. Ihre Elterngeneration hat mit ehrlicher Arbeit einen angenehmen Wohlstand erreicht haben – und das nicht nur vereinzelt, sondern auf breiter Basis. Da stellt sich dann eben die Frage: Warum ist das heute nicht mehr möglich?
Die wichtigsten Begriffe in der Kapitalismus-Debatte
Unter Geldmenge versteht man den gesamten Bestand an Geld, der in einer Volkswirtschaft zur Verfügung steht. Die Geldmenge kann durch Geldschöpfung erhöht und durch Geldvernichtung gesenkt werden. In der Volkswirtschaftslehre und von den Zentralbanken werden verschiedene Geldmengenkonzepte unterschieden, die mit einem M, gefolgt von einer Zahl bezeichnet werden. Für M1 und die folgenden Geldmengenaggregate M2 und M3 gilt stets, dass das Geldmengenaggregat mit einer höheren Zahl das mit einer niedrigeren einschließt. Eine niedrigere Zahl bedeutet mehr Nähe zur betrachteten Geldmenge und zu unmittelbaren realwirtschaftlichen Transaktionen. Die Geldbasis M0 stellt die Summe von Bargeldumlauf und Zentralbankgeldbestand der Kreditinstitute dar. Geldvolumen M-1 = Bargeldumlauf ohne Kassenbestände der Banken, aber einschließlich Sichteinlagen inländischer Nichtbanken. M-2 = Geldvolumen M-1 zuzüglich Termingelder inländischer Nichtbanken mit Laufzeiten unter vier Jahren. M-3 = Geldvolumen M-2 zuzüglich Spareinlagen inländischer Nichtbanken mit gesetzlicher Kündigungsfrist.
Die Goldparität ist der fixierte Wert einer Währungseinheit gegenüber dem Goldpreis. Sie entspricht der Menge von Gold in Gramm, die man für eine Währungseinheit erhält. Diese Menge ist im Rahmen eines Goldstandards staatlich oder durch internationale Vereinbarungen festgelegt. Über den Wert des Goldes ist damit der Wert der Währung bestimmt. Bei der Goldparität handelt sich um einen Sonderfall der Wechselkursparität. Ein mögliches Beispiel hierfür ist die Festlegung des Wertes des Dollars im Bretton-Woods-System. Die Goldparität des Dollars besteht jedoch seit Ende der 1960er nicht mehr, da sie durch Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds ersetzt wurde.
Bezeichnung für eine Inflation, bei der die Preise langsam, nahezu unmerklich steigen. Meist wird von schleichender Inflation bei relativ geringen jährlichen Preissteigerungsraten von unter 5 Prozent gesprochen.
In verschiedenen Bedeutungen verwendeter Begriff. Wird häufig den Begriffen Geld oder Vermögen gleichgesetzt. Volkswirtschaftlich einer der drei Produktionsfaktoren neben Arbeit und Boden. Gesamtwert aller Güter, mit denen die Unternehmung arbeitet (Aktivseite der Bilanz). Buchhalterisch die Posten des Gesamtvermögens, die auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen werden. Auch: für Investitionen zur Verfügung stehendes Geld (Geldkapital).
Der Markt ist ein ökonomischer Ort des Tausches, an dem sich durch ein Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage Preise bilden.
Beziffert, welchen Anteil des BIP der Staat und die Sozialversicherungen ausgeben.
Steuern sind Zwangsabgaben, die ein öffentlich-rechtliches Gemeinwesen (der Staat) von Personen oder Unternehmen verlangt, um seinen Finanzbedarf zu decken und seine Aufgaben erfüllen zu können. Steuern sind die Haupteinnahmequelle von Bund, Ländern und Gemeinden. Ein Anspruch auf eine konkrete Gegenleistung besteht nicht. Rechtliche Grundlage für alle Steuern in Deutschland ist die Abgabenordnung (AO). Über Steuern hat der Staat die Möglichkeit, das Verhalten seiner Bürger zu lenken, z.B. kann die Erhöhung der Tabaksteuer oder der Stromsteuer zu einem verminderten Konsum führen. Wenn die persönlichen Verhältnisse von Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, handelt es sich um Personen-Steuern, ansonsten um Objekt-Steuern. Artikel 106 im Grundgesetz teilt die Steuern in vier Kategorien ein: Gemeinschaftssteuern (Verbundsteuern), Bundessteuern, Ländersteuern und Gemeindesteuern.
Helfen Sie mir bei der Beantwortung. Warum ist das so?
Ich denke, dass das vor allen Dingen an einem Faktor liegt, der von den meisten Ökonomen leider überhaupt nicht berücksichtigt wird: nämlich dem Währungssystem. Wir haben seit mehr als 140 Jahren Währungssysteme eingeführt, die eine immer größere Erweiterung der Geldmenge erlauben und das Ganze hat sich ab 1971 zugespitzt. Damals kündigte US-Präsident Richard Nixon wie bekannt die Bindung des Dollar an Gold auf. Seit diesem Moment erleben wir, dass das Auseinanderklaffen der durchschnittlichen Einkommen und der durchschnittlichen Vermögen, immer größer wird. Ohne Goldanbindung kann die Geldmenge im Prinzip unbegrenzt ausgeweitet werden. Das dient unter anderem der erleichterten Staatsfinanzierung, aber heute sehen wir auch sehr deutlich die Nebenfolgen, und dazu zählt das Auseinanderklaffen von Einkommen und Vermögen.
Der Preis einer Revolution wäre hoch
Umso bedrohlicher müssen in Ihren Ohren Ankündigungen der Europäischen Zentralbank klingen, große Aufkaufprogramme zumindest in ihre Gedankenspiele aufzunehmen.
Das sehe ich natürlich mit Argwohn – aber überraschend kommt das für mich nicht. Wenn Sie sich die Zahlen anschauen zur Einkommens- und Vermögensentwicklungen, dann stellen Sie fest, dass sich die Probleme wie gesagt, in den vergangenen sechs Jahren verschlimmert haben. Es ist in der Wissenschaft sehr selten, dass man innerhalb von so kurzen Zeiträumen deutliche Verschiebungen bei den Verteilungsziffern sieht. Aber hier ist das der Fall. Indem die Geldschleusen – etwa durch die US-Notenbank FED – geöffnet wurden, um Staatsanleihen aufzukaufen und die Finanzmärkte zu stabilisieren, vergrößert sich die Ungleichheit. Diejenige, die bereits vermögend waren, haben von der Geldschwemme profitiert und sich von den Durchschnittsverdienern weiter abgekoppelt.
Diese Entwicklung ist irreparabel, oder?
Nicht unbedingt. Man kann diesen Prozess noch einfangen – der Preis dafür ist aber hoch. Wenn wir den Geldhahn zudrehen, indem wir beispielsweise eine Goldumlaufswährung einführen, würden die ganzen Finanzmärkte abschmieren. Das würde auch bedeuten, dass Versicherungen viel Geld verlieren würden und folglich die Rentenansprüche nach unten revidiert werden müssten. Die Wirtschaft würde einbrechen, die Arbeitslosigkeit würde hochschnellen. Für den Staat wäre es nicht mehr möglich, viele Leistungen zu gewährleisten, da auch die Regierungen kreditabhängig sind. Bund, Länder und Kommunen müssten Angestellte entlassen. Alles läge brach. Das ist ohne Frage ein sehr hoher Preis. Allerdings müssen wir auch die Alternative – wir lassen alles wie bisher – zu Ende denken. Denn auch hier sind die Folgen eklatant. Die Menschen verlieren Monat für Monat Geld: Die Zinsen sind geringer als die Inflation, die Tariferhöhungen geringer als die Preissteigerungen.
Die wichtigsten Fakten zu Gold
Die gesamte Goldnachfrage im dritten Quartal 2014 betrug 929,3 Tonnen. Damit ist die Nachfrage um 2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (Q3'13: 952,8) gefallen.
Quelle: World Gold Council
Die weltweite Nachfrage nach Schmuck betrug im dritten Quartal 2014 insgesamt 534,2 Tonnen und ist damit um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr (Q3'13: 556,3) gefallen.
Die Nachfrage des Technologiesektors belief sich im dritten Quartal 2014 auf 97,9 Tonnen und fiel, verglichen mit den 103,1 Tonnen im dritten Quartal 2013, um fünf Prozent.
Die Nachfrage nach Goldbarren und -münzen ist im dritten Quartal 2014 deutlich gesunken – auf 245,6 Tonnen. Ein Minus von 21 Prozent im Vergleich zu 2013 (Q3: 312,3).
Dass die Gesamtnachfrage nach Gold gefallen ist, ist auch auf die Abflüsse aus Gold-EFTs zurückzuführen. Im dritten Quartal 2014 beliefen sich diese auf 41,3 Tonnen. Allerdings ist das deutlich weniger als im Vorjahr. Im dritten Quartlal 2013 betrugen sie noch 120,2 Tonnen.
Die Nettoeinkäufe von Zentralbanken betrugen im dritten Quartal 2014 92,8 Tonnen. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das einem Rückgang von neun Prozent (Q3'13: 101,5).
Die Goldnachfrage im Investment belief sich im dritten Quartal 2014 auf 204,4 Tonnen. Das ist eine minimale Steigerung von sechs Prozent, im Vorjahresquartal waren es 192 Tonnen.
Welche weiteren Folgen drohen langfristig, wenn wir so weitermachen wie bisher?
Zunächst wird die Ungleichheits-Problematik immer erdrückender. Das haben wir diskutiert. Hinzu kommt: Die Fragilität der gesamten Wirtschaft wird größer. Ausganspunkt sind hier die Finanzmärkte und die Banken, die noch immer mit unglaublich niedrigen Eigenkapitalquoten und unglaublich geringer Liquidität arbeiten. Auch das ist eine direkte Folge des Währungssystems, das wir geschaffen haben. Im 19. Jahrhundert hatten die Banken etwa 40 bis 50 Prozent Eigenkapital und mindestens 25 Prozent Cash auf der Hand. Eine Bank war damals ein großes Haus mit hohen Mauern und dicken Panzern, sie beschützten tatsächlich viel Geld. Das ist heute einfach nicht der Fall.
Der Staat muss sich auf das Wesentliche konzentrieren
Aber nochmal: Diese Probleme lassen sich doch nicht mit politischen Schritten, etwa mit der Schaffung einer Bankenunion, beheben. Brauchen wir eine Revolution?
Über die Bankenunion, den Mindestlohn oder über ein bedingungsloses Grundeinkommen zu diskutieren, beseitigt in der Tat nicht die Wurzeln des Übels. Das sind alles kurzfristige Maßnahmen, die nur dazu dienen, den Ausbruch der Krise zu verhindern und die Lage zu beschönigen. Durch die Einführung eines Mindestlohns schaffen Sie doch nicht mehr Gerechtigkeit. Das ist eher eine Art Schweigegeld für diejenigen, die dann zur Unterklasse verdammt sind, die es also aus eigener Kraft nicht nach oben schaffen. Wer wirklich etwas ändern will, der muss für einen fundamentalen Wandel, für eine Revolution und einen Neuanfang plädieren.
Wie sähe der Übergang vom Zusammenbruch des bisherigen Systems zum Neuanfang aus?
Nach dem Zusammenbruch des alten Systems wird sich die Wirtschaft wieder neu aufstellen. Es gibt zu Beginn eine Eigentumsrevolution: all diejenigen, die Firmenimperium oder vielleicht auch persönliches Vermögen auf einen Berg Schulden aufgebaut haben, werden die Leitung verlieren und müssen sich in die Reihen der normalen Angestellten eingliedern. Die Produktionsfaktoren – die Maschinen, die Produktionsstätten, das Wissen der Mitarbeiter – bleiben. Das wird weiter genutzt, nur von neuen Eigentümern. Der schmerzliche Übergangsprozess dürfte etwa drei Jahre dauern. Unter einer Goldumlaufswährung dürfte dann im weiteren Verlauf eine normale Proportion zwischen Einkommen und Vermögen entstehen, es wird dann wieder möglich sein, dass man sich aus eigener Kraft emporarbeiten kann.
Und der Staat bleibt außen vor und schaut sich das Markttreiben an?
Der Staat muss sich neu orientieren und auf das Wesentliche konzentrieren. Er muss den Leuten helfen, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können, und die anderen muss er ins kalte Wasser springen und schwimmen lassen. Also genau das, was ein Großteil der Menschen seit 40 Jahren fordert.
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