Kapitalismus in der Kritik Wachstums-Debatte braucht neue Richtung

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Die relative Perspektive und ihr falscher Einfluss

Wenn große Teile der Bevölkerung glauben, dass Wirtschaftswachstum immer groß zu sein hat und man das in relativen Veränderungen misst, dann hat das auch einen Effekt auf die zukünftige Stimmung der Wirtschaftsakteure. Diese agieren oft nach rationalen Erwartungen und weniger relatives Wachstum bedeutet dann meistens, dass Unternehmen und Investoren weniger investieren und die Konsumenten ihr Geld beisammen halten. So entstehen Abwärtsspiralen, in denen die Akteure schnell viel vorsichtiger werden, und dies bedeutet dann letztlich auch einen negativen Effekt für den Arbeitsmarkt, da dieser sich nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung entkoppeln lässt. Deswegen reden auch unisono alle Parteien gerne darüber, wie das Wirtschaftswachstum gesteigert werden kann, weil sie hoffen, dass sich das Wachstum dann zeitverzögert auch auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt.

Auch ein kleines Wachstum ist schon viel

Gerade weil weniger relatives Wachstum heute Krisen verschärft, braucht es daher eine Sensibilisierung für die Frage, ob 0,5 Prozent Wachstum gar nicht so schlecht sind. Wenn ein Gemeinwesen schon sehr reich ist, ist das Wachstum seiner Wirtschaft nämlich absolut viel größer als es der Vergleich suggeriert, wenn man zum Beispiel die Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft heute und vor 60 Jahren vergleicht.

Die Wirtschaftsakteure sind auf viel Wachstum fokussiert und sehen dabei nicht, dass 0,5 Prozent viel sind. Ein einfacher Blick auf die absoluten Zahlen zeigt dies. 2013 lag das Bruttoinlandsprodukt bei 2737,6 Milliarden Euro und 1953 bei 74,92 Milliarden Euro. Im Verhältnis ist ein Wachstum von 8,9 Prozent 1953 sicher nicht schlecht, aber 0,4 Prozent Wachstum in 2013 bedeuten eben auch ungefähr so viel absoluten Anstieg wie 1953 das gesamte BIP betragen hat. Es sollte deshalb nicht immer nur vorrangig nach relativem Wachstum geschaut werden, sondern auch begrüßt werden, dass die Wirtschaft überhaupt noch wächst. Auch ein kleines Wachstum eines großen BIP ist nämlich schon viel. Daher sollten die Wirtschaftsakteure auch bei kleinem Wachstum sich nicht aufgrund psychologischer Faktoren bei Investitionen und Kauf zurückhalten, nur weil sie einen Abwärtstrend vermuten. Sie erzeugen diesen Trend nämlich dann letztendlich selbst, wenn sie bei schwächerem relativem Wachstum ihr Geld beisammenhalten. Ihre Fixierung auf hohes relatives Wachstum ist also am Ende schuld an der Abwärtsspirale.

Die mögliche Unausweichlichkeit der Postwachstumswirtschaft

In den letzten Jahrzehnten ist das deutsche Wirtschaftswachstum schrittweise langsamer geworden. Zweistelliges Wachstum, so wie man es noch in den 1950er Jahren in Deutschland hatte, ist heute für eine europäische Industrienation undenkbar. Das ist im Prinzip nicht schlimm, weil weniger relatives Wachstum absolut immer noch viel sein kann. Der Trend kann generell aber auch bedeuten, dass der Kapitalismus sich überhitzt und letztlich die Zeit des Wirtschaftswachstums überhaupt sich ihrem Ende zuneigt. Denn warum leihen Investoren heute dem deutschen Staat Geld, ohne dafür nennenswerte Renditen zu bekommen? Normalerweise sollte das Geld doch in die renditeträchtigsten Anlagen fließen. Wenn aber die Privatinvestitionen stagnieren oder gar zurückgehen, dann glauben auch weniger Leute an Wachstum.

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