Nur wenige Wissenschaften haben ähnlich viel Einfluss auf das Geschehen in der Politik wie die Ökonomie. Schon der britische Ökonom John Maynard Keynes spottete, Politiker seien für gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen, dessen Stimmen sie zu hören meinen, wenn sie Entscheidungen treffen. Folgt man Keynes, dann befindet sich das intellektuelle Zentrum der Weltpolitik in diesen Tagen in dem beschaulichen Städtchen Lindau am Bodensee. Dort diskutieren bis zum Sonntag 17 Ökonomie-Nobelpreisträger und 450 Nachwuchsökonomen aus mehr als 80 Ländern über die wichtigsten Themen der Zunft.
Von Esoterik bis Egozentrik
Doch nicht jeder der hoch dekorierten älteren Herren, die sich in Lindau eingefunden haben, eignet sich als Einflüsterer für die Politik. Die Spannweite der Charaktere reicht von esoterisch-verschroben bis zu extrovertiert-sendungsbewusst. Joseph Stiglitz, Professor an der Columbia-Universität in New York und ehemaliger Chefökonom der Weltbank, gehört zweifelsohne zur zweiten Kategorie. Als begabter Vermarkter in eigener Sache nutzte Stiglitz die Gunst der Stunde, die in Lindau versammelten Journalisten aus aller Herren Länder flugs zu einer Pressekonferenz zusammen zu trommeln, um seine Thesen zu verbreiten.
Was Stiglitz dort zu verkünden hatte war - wie nicht anders zu erwarten - ein Trommelfeuer an Globalisierungs- und Marktkritik. Wie könne es eigentlich sein, dass sich die Weltwirtschaft noch immer nicht von der Finanzkrise erholt habe, wo doch die Märkte angeblich so effizient seien, ätzte Stiglitz gleich zu Beginn. Die Antwort auf die Frage gab er selbst. "Das Kernproblem der Weltwirtschaft ist ein Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage", konstatierte er.
Dieser Mangel sei die Folge der Sparpolitik der Regierungen in den Industrieländern, vor allem in Europa. Daher müssten die Politiker die Austeritätspolitik so schnell wie möglich beenden und mehr für das Wachstum tun. Die Regierungen in Paris und Rom, die derzeit emsig daran arbeiten, die Sparvorgaben der EU-Kommission zu unterlaufen, dürften die akademische Unterstützung aus Lindau mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben.
Es blieb Bundeskanzlerin Angela Merkel überlassen, in ihrer Rede in Lindau darauf hinzuweisen, dass der von Stiglitz konstruierte Gegensatz von Sparen und Wachstum nicht existiert. Deutschland habe gezeigt, dass es möglich sei, den Staatshaushalt zu konsolidieren und zugleich das Wachstum anzukurbeln, erklärte Merkel. Das könnten im Prinzip auch die anderen Länder in Europa schaffen - wenn sie denn nur die nötigen Reformen in Angriff nähmen. Europa müsse sich in punkto Wachstum und Reformen an den besten Ländern der Welt orientieren, wenn es seinen Sozialstaat aufrechterhalten wolle, sagte die Kanzlerin.
Staat statt Reformen
Von Reformen aber wollte Stiglitz nichts wissen. Er verglich die aktuelle Situation der Weltwirtschaft mit der Großen Depression der Dreißigerjahre. Erst die Aufrüstung für den Zweiten Weltkrieg, die wie ein gigantisches Konjunkturprogramm gewirkt habe, habe die Wirtschaftskrise damals beendet. Auch diesmal müsse der Staat der Wirtschaft unter die Arme greifen.
Am besten dadurch, dass er zugleich die Ungleichheit der Einkommen bekämpfe. Denn Ungleichheit, so Stiglitz, bremse die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, weil die Reichen weniger konsumieren als die Armen. Abhilfe könne eine weltweite progressive Steuer auf Kapitaleinkommen schaffen. Wandere das Geld so von den sparsamen Reichen zu den konsumfreudigen Armen, so stimuliere dies die gesamtwirtschaftliche Nachfrage.
Doch das ist eine krude Behauptung. Schon die Klassiker der Nationalökonomie haben gewusst, dass die Ersparnis die Basis für die Investitionen ist. Das gilt auch dann, wenn die Ersparnis von den Reichen stammt. Die durch Ersparnisse finanzierten Investitionen kurbeln die gesamtwirtschaftliche Nachfrage an, erhöhen den Kapitalstock der Wirtschaft und steigern so das langfristige Wachstumspotenzial. Dass Stiglitz diese Zusammenhänge verschweigt, gibt Anlass zu der Vermutung, dass es ihm weniger um Wachstum als um Umverteilung geht.
Fragwürdige Empfehlungen
Mindestens ebenso fragwürdig sind seine Empfehlungen zur Handelspolitik. In den derzeitigen Verhandlungen der EU mit den USA über eine transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) sieht er eine gefährliche Ersatzhandlung für staatliche Konjunkturprogramme. "Weil die Regierungen in Europa und den USA Konjunkturprogramme ablehnen, versuchen sie die Wirtschaft nun über Handelserleichterungen zu stimulieren", urteilt Stiglitz. Das aber werde nicht gelingen. Denn die meisten Zölle seien bereits stark gesunken, daher sei das Potenzial für zusätzliche Stimuli gering.
Bei TTIP gehe es vor allem darum, Regulierungen und Vorschriften, die den Außenhandel bremsen, abzubauen. Das sei jedoch gefährlich, weil diese Regeln dem Schutz der Bürger dienten. "Werden die Regeln beseitigt, dient das allein den Unternehmen, nicht aber den Verbrauchern", warnte Stiglitz. Das gelte auch für die Investitionsschutzabkommen, mit denen die Unternehmen die nationalen Vorschriften im Zielland ihrer Exporte und Direktinvestitionen außer Kraft setzen könnten.
Bei den Globalisierungskritikern von Attack, die vor dem Konferenzgebäude in Lindau ihre Plakate ausgerollt hatten, mag Stiglitz mit seinen Äußerungen auf offene Ohren treffen. Überzeugen aber können seine Thesen nicht. Wie kommt er nur auf die Idee, dass der Staat die Bürger in einer Marktwirtschaft vor den Unternehmen schützen muss? Aufgabe und Ziel von Unternehmen ist es, Gewinne zu erzielen. Das können sie nur, wenn ihre Produkte und Dienstleistungen den Wünschen der Kunden entsprechen.
Jubelt ein Unternehmen seinen Kunden minderwertige Waren unter, bricht der Umsatz ein und es verschwindet vom Markt. So dient die Gewinnorientierung der Betriebe letztlich auch den Kunden. Staatlicher Fürsorge bedürfen diese nicht, wissen sie doch selbst besser als die Politiker in Brüssel und Washington, was gut für sie ist und was nicht.
Auch die Angst vor den Investitionsschutzabkommen, die Stiglitz schürt, entbehrt jeder Grundlage. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass die Gefahr nicht von den Unternehmen für den Staat, sondern vom Staat für die Unternehmen ausgeht. Nicht ohne Grund haben die Industrieländer mit vielen Schwellenländen Investitionsschutzabkommen vereinbart, um Firmen vor staatlicher Willkür und Enteignung in den Zielländern ihrer Exporte zu schützen. Diese Gefahr ist weiterhin akut.
Staaten, die als regionale Rechtsmonopolisten keine konkurrierende Rechtsprechung durch unabhängige Schiedsgerichte dulden, stellen eine latente Bedrohung für Unternehmen dar, weil sie die Macht haben, diese jederzeit zu enteignen oder in ihrer Freiheit anderweitig einzuschränken. Wettbewerb in der Rechtsprechung ist für Unternehmen daher ein Gewinn an Freiheit und Eigentumssicherheit.
Es ist schade, dass ein so prominenter Ökonom wie Stiglitz sich an die Spitze der Globalisierungs- und Marktkritiker stellt - und durch das mediale Trommelfeuer den Eindruck erweckt, als stünde die gesamte Ökonomenzunft hinter seinen fragwürdigen Thesen.