Ist es das, was Sie an der Beschwörung der „europäischen Werte“ stört?
Mich stört die Idealisierung, ja: Selbstsakralisierung Europas – und dass die ständige Hervorhebung europäischer Werte ersichtlich dem Zweck dient, eine europäische Identität herbeizureden, die es so nicht gibt. Wenn Europa etwas auszeichnet, dann ist es seine Heterogenität. Deutschland zum Beispiel hat sich im 19. und 20. Jahrhundert doch über seine “kulturelle” Differenz zum “zivilisierten” Westen definiert. Wenn jetzt, getrieben vom Willen zur politischen Integration, so getan wird, als gebe es eine klare Grenze zwischen einem irgendwie einheitlichen Europa und dem Rest der Welt, dann ist das blanker Unsinn.
Ist der historische Unsinn einer exklusiven europäischen Werteidentität größer oder der politische Unsinn, Europa zum “Wert an sich“ zu stilisieren?
Der größte Unsinn liegt vermutlich in der Vermengung von Geschichte und Politik, also darin, dass eine Identität im Hinblick auf politische Zwecke behauptet wird. Die Beschwörung einer einheitlichen jüdisch-christlichen Tradition ist ja etwas Neues. Diese Redeweise hat es bis zum Zweiten Weltkrieg praktisch nicht gegeben, im Gegenteil – sie ist erst seit dem Holocaust üblich geworden.
An welches Europa denken Sie?
Ich denke an einen Kontinent, in dem Aufklärung, Romantik und Transzendenzverlangen ein Spannungsfeld bilden, zu dem noch der Wert der Selbstverwirklichung hinzukommt. Dieser entsteht im 18. Jahrhundert. Er breitet sich in der Bohème-Kultur des 19. Jahrhunderts aus und wird in den 1960er Jahren zur dominanten Wertorientierung – übrigens nicht nur in Europa.
Was ist mit diesem differenzierten Blick auf Europa gewonnen?
Ein realistischer Blick auf Europa verhindert, das mit dem Begriff “europäische Werte” so etwas geschieht, wie es in der Geschichte des Nationalismus mit den “nationalen Werten” geschehen ist. Bei der Reichseinigung wurde ja auch so getan, als ob es ein einheitliches Deutschtum gebe – auch wenn die Ähnlichkeiten zwischen Bayern und Österreichern damals größer waren als die zwischen Bayern und Preußen. Ich sehe die Gefahr, dass wir diesen Fehler nun in größerem Maßstab wiederholen und die Geschichte in ein neues Korsett zwängen – der angeblichen Unausweichlichkeit des europäischen Einigungsprozesses.
Woher rührt der Wille zur politischen Indienstnahme einer europäischen Identität? Und warum wird diese Identität desto mehr beschworen, je weniger erkennbar sie realpolitisch ist?
Gute Frage. Ich glaube: Das Gespräch über Europas Identität hat den tatsächlich fortschreitenden Integrationsprozess jahrzehntelang begleitet, aber nicht: gesteuert. Denn ich glaube nicht, dass die Wert-Ebene von entscheidender Bedeutung für die wirtschaftliche Integration war. Eher ließe sich sagen, dass der Werte-Diskurs dazu diente, den Mangel an Integrationsfortschritten in politischer Hinsicht zu kompensieren. Heute zeigt sich, dass Europa dadurch fundamentale Konstruktionsfehler unterlaufen sind – vor allem, was die gemeinsame Währung ohne gemeinsame Finanzpolitik anbelangt.
Das Merkwürdige ist, dass es schon vor einem Jahrzehnt Euro-Kritiker gegeben hat – und dass ausgerechnet diese Kritiker heute für ihre Kritik kritisiert werden…
Joas: … während gleichzeitig Leute Konjunktur haben, die die Konstruktionsprobleme des Euro bagatellisieren – und ausgerechnet jetzt den historischen Moment ausrufen, um endlich die entscheidenden Schritte in Richtung politische Integration zu gehen.