Sozialphilosoph Hans Joas "Die Lust an genereller Kapitalismuskritik ist zurück"

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Die Selbstsakralisierung Europas

Was die Kirchen leisten
Was die Kirchen leistenEin junges katholisches Paar (beide 35 Jahre) zahlt Kirchensteuer. Sie planen ihre Hochzeit. In drei Jahren wollen sie ihr erstes Kind bekommen, zwei Jahre später das zweite. Der Mann verdient 45.000 Euro, die Frau 40.000 Euro. Ihr Gehalt steigt um zwei Prozent pro Jahr. Insgesamt zahlen sie bis an ihr Lebensende 70 861 Euro Kirchensteuer. Die Rechnung geht davon aus, dass die aktuellen Steuerregeln dauerhaft gelten und im Ruhestand keine Kirchensteuer anfällt.Gesamtkosten Steuer:70 861 Euro Quelle: AP
Als erstes planen die beiden ihre Hochzeit. Sie führen ein mehrstündiges Gespräch mit dem Pfarrer, der bei der Trauung eine persönliche Predigt hält. Der Organist spielt ihre Musik. Nach einer Umfrage der WirtschaftsWoche unter fünf freien Theologen und Festrednern aus dem ganzen Bundesgebiet hätten diese für eine alternative Hochzeit inklusive Vorbereitung im Durchschnitt 730  Euro berechnet. Mit der Miete von Kirche oder Saal und Musik hätte das Paar für die alternative Feier 1000 Euro gezahlt. Ihr Glück: Der Treueschwur hält. Die Hochzeitskosten wären also nur einmal im Leben angefallen.Leistung: 1000 Euro Quelle: dpa
Wenige Jahre später lassen die beiden ihre Kinder taufen. Auch die Taufe findet in der Ortskirche statt. Für alternative Willkommensfeiern hätten die freien Theologen und Festredner durchschnittlich 368 Euro genommen. Findet die Feier zum Beispiel im Garten statt und wird nur ein Musiker engagiert, müssten sie für eine solche Feier 500 Euro einplanen. Bei zwei Kindern sind die Taufen also 1000 Euro wert.Leistung: 1000 Euro Quelle: dapd
An Weihnachten lieben die Kinder das Krippenspiel. Zwar fragt der Pfarrer nicht nach der Mitgliedschaft, aber für die Familie ist das Ehrensache. Würden sie stattdessen in die Oper gehen, zum Beispiel in Hänsel und Gretel, würde das die Familie jedes Jahr 50 Euro kosten. In den ersten zehn Jahren mit kleinen Kindern sparen sie also 500 Euro. Leistung: 500 Euro Quelle: dpa
Dank des kurzen Drahts zum Pfarrer bekommt das Paar für die Kinder einen Platz im kirchlichen Kindergarten. Die Gebühren gleichen aber denen eines städtischen Kindergartens, das Paar hat einen Vorteil, spart aber kein Geld.Leistung: 0 Euro Quelle: dpa
Später schicken die Eltern ihre Kinder auf ein kirchliches Gymnasium, der Schulplatz ist ihnen sicher. Eine freie Privatschule würde 400 Euro im Monat kosten, bei der kirchlichen fallen nur 80 Euro an. Zwar können Eltern die Kosten zu 30 Prozent von der Steuer absetzen. Bei zwei Kindern und acht Jahren Schulzeit sparen sie netto trotzdem rund 56.947 Euro.Leistung: 56.947 Euro Quelle: dapd
Die Kinder entscheiden sich für eine Firmung oder Konfirmation. Als Fest der persönlichen Reife entscheiden sich viele nicht gläubige Jugendliche für ein alternatives Ritual. Vor allem in Ostdeutschland ist die Jugendweihe bekannt. Pro Kind fallen dafür etwa 100 Euro an, bei zwei Kindern also 200 Euro.Leistung: 200 Euro Quelle: dpa

Ist es das, was Sie an der Beschwörung der „europäischen Werte“ stört? 

Mich stört die Idealisierung, ja: Selbstsakralisierung Europas – und dass die ständige Hervorhebung europäischer Werte ersichtlich dem Zweck dient, eine europäische Identität herbeizureden, die es so nicht gibt. Wenn Europa etwas auszeichnet, dann ist es seine Heterogenität. Deutschland zum Beispiel hat sich im 19. und 20. Jahrhundert doch über seine “kulturelle” Differenz zum “zivilisierten” Westen definiert. Wenn jetzt, getrieben vom Willen zur politischen Integration, so getan wird, als gebe es eine klare Grenze zwischen einem irgendwie einheitlichen Europa und dem Rest der Welt, dann ist das blanker Unsinn. 

Ist der historische Unsinn einer exklusiven europäischen Werteidentität größer oder der politische Unsinn, Europa zum “Wert an sich“ zu stilisieren? 

Der größte Unsinn liegt vermutlich in der Vermengung von Geschichte und Politik, also darin, dass eine Identität im Hinblick auf politische Zwecke behauptet wird. Die Beschwörung einer einheitlichen jüdisch-christlichen Tradition ist ja etwas Neues. Diese Redeweise hat es bis zum Zweiten Weltkrieg praktisch nicht gegeben, im Gegenteil – sie ist erst seit dem Holocaust üblich geworden.

An welches Europa denken Sie? 

Ich denke an einen Kontinent, in dem Aufklärung, Romantik und Transzendenzverlangen ein Spannungsfeld bilden, zu dem noch der Wert der Selbstverwirklichung hinzukommt. Dieser entsteht im 18. Jahrhundert. Er breitet sich in der Bohème-Kultur des 19. Jahrhunderts aus und wird in den 1960er Jahren zur dominanten Wertorientierung – übrigens nicht nur in Europa. 

Was ist mit diesem differenzierten Blick auf Europa gewonnen? 

Ein realistischer Blick auf Europa verhindert, das mit dem Begriff “europäische Werte” so etwas geschieht, wie es in der Geschichte des Nationalismus mit den “nationalen Werten” geschehen ist. Bei der Reichseinigung wurde ja auch so getan, als ob es ein einheitliches Deutschtum gebe – auch wenn die Ähnlichkeiten zwischen Bayern und Österreichern damals größer waren als die zwischen Bayern und Preußen. Ich sehe die Gefahr, dass wir diesen Fehler nun in größerem Maßstab wiederholen und die Geschichte in ein neues Korsett zwängen – der angeblichen Unausweichlichkeit des europäischen Einigungsprozesses. 

Woher rührt der Wille zur politischen Indienstnahme einer europäischen Identität? Und warum wird diese Identität desto mehr beschworen, je weniger erkennbar sie realpolitisch ist? 

Gute Frage. Ich glaube: Das Gespräch über Europas Identität hat den tatsächlich fortschreitenden Integrationsprozess jahrzehntelang begleitet, aber nicht: gesteuert. Denn ich glaube nicht, dass die Wert-Ebene von entscheidender Bedeutung für die wirtschaftliche Integration war. Eher ließe sich sagen, dass der Werte-Diskurs dazu diente, den Mangel an Integrationsfortschritten in politischer Hinsicht zu kompensieren. Heute zeigt sich, dass Europa dadurch fundamentale Konstruktionsfehler unterlaufen sind – vor allem, was die gemeinsame Währung ohne gemeinsame Finanzpolitik anbelangt.

Das Merkwürdige ist, dass es schon vor einem Jahrzehnt Euro-Kritiker gegeben hat – und dass ausgerechnet diese Kritiker heute für ihre Kritik kritisiert werden…

Joas: … während gleichzeitig Leute Konjunktur haben, die die Konstruktionsprobleme des Euro bagatellisieren – und ausgerechnet jetzt den historischen Moment ausrufen, um endlich die entscheidenden Schritte in Richtung politische Integration zu gehen.

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