Serie: Künstliche Intelligenz Wenn Verstorbene per Chatbot weiterleben

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Das Dogma des Dataismus

Sind wir wirklich nicht mehr als die Summe unserer Daten? Lässt sich mittels Fitnesstrackern und Facebook-Likes, Stimmaufzeichnungen und Sucheinträgen tatsächlich das Wesen eines Menschen mumifizieren?

Manches deutet darauf hin. Es ist eine alte Erkenntnis, dass etwa Sprachmuster Ausdruck unserer Persönlichkeit sind. Neu ist, dass künstliche Intelligenz diese Muster heute sehr gut aufspüren kann – aus Massen an Daten, die wir im Netz produzieren. Forscher der Universitäten Cambridge und Stanford behaupten, mit Facebook-Likes die Persönlichkeit von Testpersonen einschätzen zu können. MIT-Forscher wiederum behaupten, sie könnten die Emotionen eines Menschen zu 87 Prozent richtig deuten, allein indem sie seinen Körper mit Radiowellen bestrahlen, aus dem Echo Herzschlag und Atmung auslesen und die Werte mit künstlicher Intelligenz auswerten.

Oft genug trauen wir Rechenformeln heute schon mehr als unserer inneren Stimme. Partnerbörsen vermitteln uns Lebensgefährten, Netflix empfiehlt uns Fernsehserien. Angelina Jolie ließ sich die Brüste entfernen, weil ihr DNA-Analysen ein hohes Risiko zumaßen, an Krebs zu erkranken.

Der Historiker Yuval Harari sieht das Ende des Humanismus nahen – wenn sich das Dogma des Dataismus durchsetzt. Es wäre eine Ära, in der künstliche Intelligenzen wie Apples Assistent Siri besser über uns Bescheid wissen als wir selbst. Er schreibt: „Ein Algorithmus, der meinen Körper und mein Gehirn überwacht, könnte exakt wissen, wer ich bin, wie ich mich fühle und was ich will.“ So ein Computerklon könnte für uns schon zu Lebzeiten den Wahlzettel ausfüllen, die Einkäufe im Netz erledigen und E-Mails schreiben. Nach dem Tod würde er im Netz fortleben. Manchen Bekannten würde gar nicht auffallen, dass wir gestorben sind.

Und es geht noch morbider. Wer demnächst zu sterben gedenkt, kann sein Gehirn beim US-Start-up Humai einfrieren lassen. In 30 Jahren, wenn Maschinen schlauer geworden sind als wir selbst, tauen die Nerds es auf und verbinden es mit einem künstlichen Körper. Damit der Verblichene wieder ganz der Alte ist, sollen Computer über eine Schnittstelle zahllose persönliche Daten ins Hirn speisen.

Futurist Kurzweil glaubt, dass ein solcher USB-Anschluss ins Ich in 30 Jahren möglich ist. Dann schwärmen winzige Drahtlos-Sensoren in unsere Gehirnzellen aus und lesen ihre Gedanken. Scheidet der Körper dahin, steht er als Hologramm wieder auf, und der Geist lebt als Download auf Speicherkarten fort. Ein irrer Plot, aber der russische Milliardär Dmitry Itskov bezahlt Forscher in seinem Forschungsprojekt „2045 Initiative“ dafür, Kurzweils Plan von der digitalen Wiedergeburt umzusetzen.

Jetzt schreiben wir das Jahr 2017, und das Gehirn ist für uns weitestgehend eine Blackbox. So lange das so ist, bleibt etwas Unberechenbares, das uns einzigartig macht. Und wir bleiben sterblich. Eben das treibt den Menschen an, ein Vermächtnis zu hinterlassen: Kinder, Bücher, Kunstwerke. Der Tod ist ein Antrieb, der Menschen schöpferisch macht – Regisseur Woody Allen hat oft darüber gesprochen. Er habe keine Angst vor dem Sterben, sagte er einmal. Er wolle nur nicht dabei sein, wenn es passiert.

Im nächsten Teil: Können Maschinen lernen, ethisch zu handeln?
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