Keine Industrialisierung ohne Knolle Wie unsere Kartoffel den Fortschritt befeuert hat

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Die Karotte war nicht immer orange

Die Essensmacher
Antoine ParmentierGeboren 1737 in Montdidier, gewann er 1769 einen Preis für die beste Abhandlung über eine Gemüsesorte, die Brot ersetzen könnte. Sein Vorschlag: Kartoffelanbau. Der Kartoffelpüreeauflauf Hachis Parmentier wurde nach ihm benannt. Quelle: Gemeinfrei
König Ludwig XVI.Der König setzte modische Trends. Einer war eine violette Kartoffelblüte, die er am Revers trug, Gattin Marie-Antoinette trug gar ein Bouquet. Damit verhalfen beide der Kartoffel zu einem bis dahin undenkbar hohen Ansehen. Quelle: Gemeinfrei
Napoleon I.Soldaten müssen essen, auf langen Feldzügen war die Bereitstellung von Nahrungsmitteln eine der größten Herausforderungen. Kaiser Napoleon Bonaparte lobte einen Preis aus für denjenigen, der es schaffte, Speisen haltbar zu machen, damit die Soldaten langfristig versorgt waren. 12 000 Goldfranken betrug das Preisgeld. Die Soldaten mussten oft genug erleben, dass in den Dörfern, an denen sie vorbeikamen, die Lebensmittel knapp wurden. Quelle: Gemeinfrei
Justus von LiebigDie Landwirtschaft verdankt dem 1803 geborenen Chemiker das Superphosphat. Dieses entwickelte er in den Jahren 1846 bis 1849 in seinem eigenen Labor. Noch heute ist diese Art von Phosphatdünger das am häufigsten eingesetzte Düngemittel in der Landwirtschaft, im 19. Jahrhundert verhalf es den Bauern zu deutlich ertragreicheren Ernten. Quelle: Gemeinfrei
Nicolas AppertDas Verb "appertieren" ist dem Nachnamen des Franzosen entlehnt, der 1749 geboren wurde. Der gelernte Konditor beschäftigte sich früh mit der Frage, wie Nahrung haltbar zu machen sei. Einkochen und Einwecken gehen auf sein Konto, 1804 gründete er eine Konservenfabrik, von 1812 an nutzte er Weißblechdosen. Er ist auch der Erfinder der Konservenmilch. Quelle: Gemeinfrei
Daniel Peter Heute ist Bitterschokolade die Schokosorte der Stunde. Kinder aber lieben Milchschokolade, die sie auch dem 1836 geborenen Schweizer zu verdanken haben. Er gilt als ihr Erfinder, wenngleich in Dresden bereits 1839 Ähnliches gelang. Peter experimentierte zusammen mit Henri Nestlé, zunächst mit Milchpulver, doch erst mit Kondensmilch wurde sein Produkt ein Erfolg. Quelle: CHOCOSUISSE, Verband Schweizerischer Schokoladefabrikanten

Man könnte einwenden, Nahrungsmittel ließen sich nicht erfinden. Ein Maiskolben sah stets aus wie ein Maiskolben. Vielleicht haben wir Vegetabilien durch fortwährende Züchtung über die Jahrhunderte etwas widerstandsfähiger oder größer gemacht; aber doch wohl kaum erfunden? Tatsächlich ist alles, was wir essen, irgendwann erfunden worden – und zwar letztlich in der gleichen Weise wie die Dampfmaschine. Praktisch nichts von dem, was wir heutzutage zu uns nehmen, entstammt noch der Natur, auch wenn wir lieber das Gegenteil glauben möchten. Und dabei geht es nicht nur um Fertigpizzas oder Kunstkäse. Die Karotte ist eines der am offensichtlichsten von Menschenhand beeinflussten Nahrungsmittel, das man sich vorstellen kann. Man sieht es ihr an, und zwar wegen des knalligen Orange, in dem sie daherkommt.

Orange für Willem van Oranje

Ursprünglich waren Karotten weiß oder violett. Im 16. Jahrhundert kamen niederländische Pflanzenzüchter jedoch auf die Idee, Prinz Wilhelm I. die Karotte zu widmen, gewissermaßen als vegetabilen Orden für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet des Katholikenmassakrierens. Die Monarchen-Möhre, welche den Gärtnern vorschwebte, sollte nicht einfach nur den Namen des Herrschers tragen, sondern diesem auch durch ihre Farbgebung huldigen. Wegen Willem van Oranje besitzt die moderne Möhre deshalb ihre unnatürliche Farbe.

Aus

Erstellte man eine Liste der wichtigsten Erfinder der Geschichte, landete auf Platz eins möglicherweise nicht Vint Cerf, der Vater des Internets und auch nicht Henry Ford – sondern Antoine Parmentier, der Wegbereiter der Kartoffel. Verglichen mit der Wirkung der Knolle auf unsere Gesellschaft, nehmen sich die Folgen von iPhone oder Auto geradezu bescheiden aus. Warum? Weil es nicht die Dampfmaschine war, die die Industrialisierung möglich machte. Es war die Kartoffel.

Keiner wollte die Kartoffel

Kolumbus hatte die Knolle mit nach Europa gebracht. Aber zunächst wollte sie niemand essen. Abergläubische Menschen meinten, Kartoffelverzehr führe zu Lepra. Und selbst weniger hysterische Zeitgenossen wie der französische Philosoph Denis Diderot ließen kaum ein gutes Haar an ihr: "Egal, wie man sie zubereitet", schrieb er in seiner "Encyclopédie", "die Wurzel schmeckt nach nichts, außer nach Stärke." Dass sie Krankheiten verursache, hielt er für Unsinn. Aber man könne "sie nicht als Genuss bezeichnen... sie ist für jene, die lediglich am Nährwert interessiert sind." Außerdem dürfe der Kartoffelesser nichts gegen schlimme Blähungen haben, so Diderot. Denn sie sei äußerst "windig".

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