Das Meer hat sich für einige Stunden zurückgezogen. Es herrscht Ebbe am Strand von Saint Jean du Doigt im Norden der Bretagne. So weit das Auge reicht, reihen sich Tausende Häufchen kleiner Sandwürste aneinander. Sie erinnern ein wenig an Kothaufen einer vorbeigezogenen Tierherde. Dabei sind es nur Ausscheidungen von Wattwürmern, vor denen sich manche Menschen dennoch ekeln. Nicht so Franck Zal. Er geht begeistert in die Hocke.
„Das ist ein Zeichen, dass der Strand sauber ist“, sagt der Biologe. „Die Würmer ernähren sich von Mikroorganismen und scheiden wieder völlig reinen Sand aus.“
Jahrelang mokierten sich Freunde und Kollegen über Zals Interesse an dieser seit Millionen Jahren existierenden Spezies, die eigentlich nur als Köder fürs Angeln taugt. Bis er etwas in ihrem Atmungssystem entdeckte, das Leben retten kann: Der Wurm transportiert mit einem Molekül Sauerstoff in seinem Körper, das diesen Job problemlos auch im Blut von Säugetieren – also auch von Menschen – erledigen kann.
Bestätigen sich die Studien, ließen sich erstmals Bluttransfusionen ersetzen, ohne die viele Schwerverletzte sterben müssten und viele Operationen nicht möglich wären. Die Ärzte suchen seit Jahrzehnten nach solch einem Wunderstoff, weil weltweit Millionen Liter Blutkonserven fehlen.
Suche nach dem Superhämoglobin
Im Tierversuch konnten der 44-jährige Biologe und die inzwischen 40 Mitarbeiter seines Biotech-Start-ups Hemarina, das Zal 2007 im bretonischen Morlaix gegründet hat, die Machbarkeit zeigen. Das Team entzog Mäusen und Kaninchen fast komplett den eigenen Sauerstofftransporter, das Hämoglobin, und ersetzte es durch Hemarina M101. Das ist die Substanz, die es aus den Wattwürmern gewinnt. „Die Tiere lebten ohne Probleme weiter“, berichtet Zal. „Es gab keine Abstoßungsreaktionen.“ Anders als das etwa der Fall wäre beim Vermischen verschiedener menschlicher Blutgruppen – was tödlich sein kann. Hemarina M101 ist dagegen universell einsetzbar.
„Die Fachwelt sucht händeringend nach einem Superhämoglobin“, sagt Mariola Söhngen. Die Ärztin und ihr Mann Wolfgang haben die Aachener Biotech-Firma Paion gegründet und vor Jahren den Wirkstoff Desmoteplase untersucht, mit dem die Vampirfledermaus das Blut ihrer Opfer daran hindert zu gerinnen. „Forscher diskutieren seit Langem, dass in niederen Arten wie Würmern solch eine Substanz zu finden sein könnte“, erklärt Söhngen. „Der Einsatz als Blutersatz ist naheliegend. Da gibt es vermutlich den größten Bedarf.“
Es geht nicht ums Geld
Tatsächlich wäre der Markt für ein derartiges Ersatzmittel enorm. Weltweit spenden Freiwillige derzeit rund 107 Millionen Einheiten jährlich. Mindestens 75 Millionen Liter fehlen aber laut der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Zal hat für Hemarina seinen sicheren Beamtenposten bei der Forschungsorganisation CNRS aufgegeben. Die hat in Frankreich einen ähnlichen Ruf wie die Max-Planck-Institute in Deutschland. „Meine Kollegen haben mich für verrückt erklärt, und ich hatte mehr als eine schlaflose Nacht“, erzählt er. „Aber solch ein Projekt lässt sich in einem privaten Unternehmen besser durchführen.“
Inzwischen hat ein großer französischer Pharmahersteller ein Millionenangebot für Hemarina abgegeben – ein Zeichen, welch Potenzial hinter der Geschichte mit den Wattwürmern steckt. Zal hat abgelehnt. „Auch das klingt vermutlich verrückt. Aber was soll ich mit Millionen auf dem Konto, mit dem tollsten Auto der Welt und einem größeren Haus?“, erklärt er. Ihm gehe es darum, Kranken zu helfen, Menschenleben zu retten.
Kunstblut soll Spenderorgane länger haltbar machen
Daher ist er bisher auch nicht an die Börse gegangen. Das notwendige Wagniskapital stammt von bretonischen Business Angels und Förderern. 15 Millionen Euro kamen so zusammen. Das klingt nach viel, ist aber in einer Biotech-Firma schnell ausgegeben. „Die Apparate für unsere Labors kosten ein Vermögen.“ Auch die Anmeldung von bisher 18 Patenten war nicht billig.
Dafür tun sich ständig neue Therapiemöglichkeiten auf. So sollen im März klinische Studien beginnen, um Spenderorgane mit dem Wunderstoff zu konservieren. Die Zeit, in der Niere oder Lunge nicht durchblutet werden, müssen die Ärzte so kurz wie möglich halten, um Schäden zu verhindern. Bisher dürfen etwa bei der Transplantation eines Herzens nicht mehr als vier Stunden vergehen, bei einer Leber zwölf. Würde das Organ dagegen im sauerstoffreichen Kunstblut des Wurms baden, ließen sich die Transportzeiten wohl verdoppeln. „Unsere Tests haben ergeben, dass eine mit M101 konservierte Niere schon eine Stunde nach der Verpflanzung wieder arbeitet. Bisher müssen die Patienten nach dem Eingriff noch bis zu einem Monat zur Dialyse“, so Zal.
Organspenden in Deutschland
Kliniken müssen künftig Transplantationsbeauftragte vorhalten, denn bisher melden nur die Hälfte der Häuser mit Intensivstationen potenzielle Organspender.
Ein Spender kann bis zu sieben Kranken helfen. Nach dem Hirntod können Niere, Herz, Leber, Lunge, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse und Gewebe gespendet werden. Auf dem Spenderausweis können bestimmte Organe angegeben werden. Es gibt aber auch Lebendspenden, etwa von Nieren.
In Deutschland kommen auf eine Million Einwohner knapp 15 Spender. International liegt die Bundesrepublik damit im unteren Drittel. 2011 wurden 1200 Menschen nach dem Tod 3917 Organe entnommen - das waren 7,4 Prozent Spender weniger als im Vorjahr.
Vielfältige Einsatzmöglichkeiten
Daneben will er mit dem Mittel auch offene Wunden behandeln, die oft schlecht heilen. Er hofft, dass Sauerstoffreichtum und Verträglichkeit von Hemarina M101 die Heilung kräftig beschleunigen.
Die US-Navy testet derweil, ob sie mit der Substanz Schäden durch Blutgerinnsel im Hirn lindern kann, die durch Druckwellen von Explosionen entstehen. Dadurch können Adern verstopfen, was im schlimmsten Fall tödlich ist, weil Nervengewebe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird. Nehmen Soldaten M101 nach einer Detonation ein, könnte es das Gehirn schützen. Das könnte auch bei Patienten mit Verdacht auf einen Schlaganfall funktionieren.
„Das wäre der Königsweg“, urteilt Paion-Chefin Söhngen. „Idealerweise würde das Mittel bereits im Krankenwagen verabreicht.“ Ob ein großzügiger Einsatz möglich sei, hänge aber von den Produktionskosten ab. Die seien bei biologischen Substanzen oft hoch. Sie warnt zudem vor zu viel Optimismus. Denn Tierversuche lassen sich nicht immer auf Menschen übertragen.
Angesichts der vielen Therapieansätze kann Zal längst nicht mehr wie früher mit Gummistiefeln und Schaufel an den bretonischen Stränden nach Wattwürmern jagen. Mittlerweile liefert eine Zucht in den Niederlanden mehrere Tonnen jährlich.
Glücklicherweise stammt das M101 nicht aus einer vom Aussterben bedrohten Art. Zal verdreht die Augen. „Das Genehmigungsverfahren für unsere eigene Zucht war trotzdem eine Odyssee. Ich habe mir anhören müssen, dass Würmer keine Sympathieträger für eine Gemeinde seien.“ Sollte der Gründer Erfolg haben, wird sich das sicherlich schnell ändern: Wer hat nicht gern einen Lebensretter an der Angel.