Medizin Prothese holt gehörlose Kinder aus der Welt der Stille

Sprechenlernen war für gehörlose Kinder früher kaum möglich. Die Innenohrprothese – ein kleines technisches Wunder – ermöglicht vielen heute ein Aufwachsen fast ohne Beeinträchtigung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Der zehnjährige Emin spielt auf seinem Klavier. Emin trägt zwei Cochlea Implantate, da er von Geburt an gehörlos ist. Quelle: dpa

Hannover Vor der Operation war noch nicht einmal klar, ob Emin jemals sprechen lernen wird. Nach einer Odyssee von Arzt zu Arzt hatten die Experten an der Medizinischen Hochschule Hannover bei dem Einjährigen eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit festgestellt. Zudem stand der Verdacht Autismus im Raum. Neun Jahre später hat der Junge mit dem Kosenamen Mimo sieben Einsen auf dem Zeugnis, er schwimmt gern und spielt sogar Klavier. Seine Eltern wollen Mimos Geschichte erzählen, um anderen Betroffenen Mut zu machen.

Der Zehnjährige trägt auf beiden Seiten ein Cochlea-Implantat (CI). Die Innenohrprothese, die unter Vollnarkose eingesetzt wurde, wandelt Schallwellen in elektrische Impulse um. Die Chirurgen führten eine Elektrode in Mimos Hörschnecke (lateinisch: Cochlea) ein, welche die Aufgabe seiner defekten Haarzellen übernimmt. Bei der OP musste eine Vertiefung in den Schädelknochen gefräst und durch das Felsenbein gebohrt werden. Außen sichtbar sind das Mikrofon mit Sprachprozessor und die magnetisch am Kopf befestigte Sendespule, die Höreindrücke zum Implantat überträgt.

„Als er zum ersten Mal hörte, wurden seine Augen ganz groß. Den Tag vergesse ich nie“, erzählt Mimos Vater bei Kaffee und Gebäck in der Wohnung der Familie in Hannover. Die tunesischen Eltern, die beide zum Studium nach Niedersachsen gekommen waren, krempelten ihr Leben für ihr erstes Kind komplett um. Zu Hause sprachen sie nur noch Deutsch. Die Mutter behielt ihren Job als Informatikerin. Der Vater gab seine Karriere auf, um mit Mimo nach der Kita am Nachmittag drei Stunden spielerisch sprechen zu üben. Mit zwei Jahren sprach der Junge sein erstes Wort: „Aus!“

Das Hören mit einem Implantat muss erlernt werden. „Das was wir einbauen, ist im Vergleich zu dem, was unser Ohr leistet, primitiv. 20 Elektrodenkontakte können nicht 20 000 Sinneszellen ersetzen“, sagt Prof. Thomas Lenarz, Direktor der HNO-Klinik und des Deutschen HörZentrums an der Medizinischen Hochschule Hannover, die zu den größten Implantat-Zentren weltweit gehört. Menschen, die zum Beispiel nach einem Unfall mit einem CI versorgt wurden und vorher normal hörten, beschreiben den Klang als metallisch oder Mickey-Mouse-artig.

Das Verständigungsmittel der rund 80 000 Gehörlosen in Deutschland ist die Gebärdensprache. Doch es gab Ärzte, die Kindern nach der Implantation untersagten, die Gebärdensprache zu benutzen. Derartige Verbote seien inzwischen als Fehler erkannt worden, sagt Prof. Anke Lesinski-Schiedat, Oberärztin der HNO-Klinik. „Heute wachsen die implantierten Kinder gehörloser Eltern zweisprachig auf und verständigen sich mit ihren Eltern in Gebärdensprache.“


Deutsche Gehörlosen-Bund rät nicht ab

Der Deutsche Gehörlosen-Bund rät weder zu einer Implantation, noch rät er davon ab. In jedem Fall sollten Eltern gehörloser Kinder vorher umfassend über Chancen und Risiken informiert werden, betont die Wissenschaftliche Referentin des Verbands, Bettina Herrmann. Die Förderung nach der OP sei einseitig auf das Hören ausgerichtet und ignoriere die Gebärdensprache, kritisiert der Verband.

Annette Leonhardt, Professorin für Gehörlosenpädagogik an der Uni München, sieht das Implantat als Gewinn, auch für Kinder von gehörlosen Eltern. Wichtig sei in diesen Fällen, dass die Eltern mit dem Kind trotz Implantat weiterhin in Gebärdensprache kommunizieren. Gleichzeitig müsse es sprechende Großeltern oder Tagesmütter geben, mit deren Hilfe das Kind sprechen lernt. „Die Eltern müssen aber die Eltern bleiben“, betont die Wissenschaftlerin.

Mit dem Begriff Gebärdensprache kann Mimo nichts anfangen, er lernt als dritte Sprache Französisch. Wenn alle durcheinanderschreien, hat der Junge manchmal Schwierigkeiten mit dem Verstehen. „In der Schule klappt es gut. Meine Lehrerin spricht laut und deutlich“, sagt der Viertklässler und lächelt. Er findet es ein wenig komisch, wegen des Geräts im Mittelpunkt zu stehen - für ihn ist die Prothese Alltag. Die Batterien wechselt er alle paar Tage selbstständig.

Etwa ein bis zwei Prozent aller Kinder kommen gehörlos zur Welt. Ist der Hörnerv intakt, kommt ein Cochlea Implantat infrage. 3000 dieser Prothesen werden jährlich bundesweit eingesetzt, etwa die Hälfte davon in den großen Zentren wie Hannover, Freiburg, Würzburg, Frankfurt und Kiel.

Aus Expertensicht ist es ideal, gehörlose Babys bereits zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat zu operieren, damit die Hörbahnreifung und damit auch die Sprachentwicklung normal verlaufen. Je später dies geschieht, desto mehr muss aufgeholt werden. Das Gehirn stellt sich auf das Fehlen des Hörsinns ein und organisiert sich anders. Spätestens mit sieben Jahren schließt sich das Sprachfenster für immer. Viele hörgeschädigte Kinder kämpfen mit Lernproblemen. Es ist schwierig, Mathe zu begreifen, wenn die Worte fehlen.

Erst seit drei Jahren wird in allen deutschen Kliniken das Hörvermögen von Neugeborenen getestet. Davor war es eher Zufall, wenn Schwerhörigkeit bereits früh erkannt wurde. Meist fielen die Probleme erst beim Sprechenlernen auf. Prof. Lenarz kämpfte jahrelang für das bundesweite Hörscreening. Aus Sicht des Mediziners müsste man noch einen Schritt weiter gehen. In Österreich und den USA werde von Behördenseite nachgefasst, wenn Eltern der Empfehlung, mit ihrem Baby zum HNO-Arzt zu gehen, nicht folgen.


Pilotversuch seit 2002

Oskars an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit wurde bei einem solchen Hörscreening bereits in der Geburtsklinik entdeckt. Das Krankenhaus hatte bereits im Jahr 2002 an einem Pilotversuch teilgenommen. Schon mit sechs Monaten bekam er gleich auf beiden Seiten Implantate. Seit dem Sommer geht Oskar zum Gymnasium. Das Klassenzimmer wurde für ihn extra gedämmt. „Ich versteh' alles“, sagt er beim jährlichen Routinetermin im Deutschen HörZentrum. Auf den Fluren hängen Plakate mit Überschriften wie „Hören durch High-Tech“. In einem Behandlungsraum schließt Ingenieur Gert Joseph Oskars CIs an einen Computer an und macht verschiedene Tests.

Vor knapp einem Jahr hat der Junge einen neuen Sprachprozessor bekommen. „Das ist wie die Umstellung vom iPad3 aufs iPad4“, meint Oskar, der nur für die Besprechung mit dem Audiologen seine coole Indoor-Mütze absetzt. „Deine Testergebnisse sind wirklich super“, sagt Joseph. Probleme gibt es allerdings, die gespeicherten Einstellungen mit der neuen Fernbedienung zu synchronisieren. Oskar hat den Eindruck, dass die Programme von allein umspringen. „Ich verstell' dir das immer“, ärgert ihn sein jüngerer Bruder. „Da finden wir eine Lösung“, verspricht der Ingenieur.

Mimo und Oskar sind sehr gute Schüler. „Wenn neben der Gehörlosigkeit keine anderen Behinderungen vorliegen, erleben wir häufig, dass frühimplantierte Kinder in der Sprachentwicklung sogar weiter sind als Altersgenossen“, sagt Angelika Strauß-Schier, eine der Pädagoginnen im HörZentrum. Die Familien werden angeleitet, wie sie ihren Nachwuchs am besten fördern. „Es geht darum, in alltäglichen Situationen, zum Beispiel beim Zähneputzen oder Tischdecken, ständig Sprache anzubieten.“

Zum Schlafen und beim Schwimmen nehmen Mimo und Oskar ihre Cochlea- Implantate heraus. Dann umgibt die Jungen völlige Stille. Das sind sie nicht anders gewöhnt. Mimo hat in der Ruhe sogar vor kurzem einen Vorteil entdeckt. „Neulich auf der Klassenfahrt hat einer in meinem Zimmer geschnarcht. Das hat die anderen gestört. Aber ich konnte ruhig schlafen.“


© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%