Stevia Der fast perfekte Süßstoff

Die EU hat die Pflanze Stevia als Süßungsmittel zugelassen. Das Honigkraut ist kalorienfrei und viel süßer als Zucker. Nahrungsmittelkonzerne hoffen auf ein Riesengeschäft, doch dabei gibt es zwei Probleme.

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Wissenschaftler Udo Kienle: Ein Forscherleben für die Stevia-Pflanze.

Ein halbes Forscherleben hat der Agrarwissenschaftler Udo Kienle einer unscheinbaren grünen Pflanze gewidmet. Sie sieht aus wie eine Mischung aus Minze und Brennessel, heißt Stevia rebaudiana und stammt ursprünglich aus Paraguay. In Deutschland ist sie auch als Honigkraut bekannt. Stevia ist bis zu 300 mal so süß wie Zucker und dabei kalorienfrei.

Aus Stevia ließe sich daher also der perfekte Süßstoff gewinnen, doch es gibt zwei Probleme. Zum einen ist es ein gewisser Eigengeschmack, irgendwo zwischen lakritzartig und bitter. Zum anderen sind es Gesundheitsbedenken, wegen denen Stevia bislang in der EU nicht zugelassen war. Doch zumindest das hat sich nun geändert.

Am Montag war es für Stevia-Fans wie Kienle soweit: Die EU-Kommission genehmigte die Verarbeitung des aus der Pflanze gewonnenen Süßungsmittels Steviolglycosid in Lebensmitteln, nachdem die Mitgliedsstaaten bereits im Sommer zugestimmt hatten. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat die Unbedenklichkeit des Stoffs festgestellt. Ab zweitem Dezember dürfen Stevia-Produkte verkauft werden.

„Zucker des 21. Jahrhunderts“

Nun könnte die süße Revolution starten. Als „Zucker des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet Kienle das Süßungsmittel und der Marktforscher Mintel prognostiziert, dass Stevia in einigen Jahren bis zu einem Viertel des weltweiten Süßstoffmarktes abdeckt. Demnach könnte Stevia im Wert von zehn Milliarden Dollar verkauft werden. Allein in den USA, wo Stevia bereits Ende 2008 zugelassen wurde, stieg der Umsatz von 21 Millionen Dollar im Jahr 2008 auf schätzungsweise 100 Millionen Dollar im Vorjahr.

Wichtigster Spieler in dem neuen Geschäft ist der US-Nahrungsmittelriese Cargill, der den Stevia-Süßstoff Truvia entwickelt hat. Drei Jahre nach der Zulassung hat Truvia bereits den zweiten Platz auf der Liste der meistverkauften Süßstoffe in den USA erobert und hält dort einen Marktanteil von 13 Prozent.

Künftig wird das weiße Pulver auch auf den europäischen Markt kommen, Cargill kündigte bereits Vertriebsvereinbarungen mit großen Zuckerfirmen in Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien an.

Stevia-Jogurt von der Andechser-Molkerei: Zulassung vor Gericht erstritten.

„Haushalssüßungsmittel könnten auch in Deutschland schon im Dezember in die Regale kommen“, sagt Kienle. Auch bislang war Stevia hierzulande schon erhältlich, in Bioläden oder Reformhäusern stand es wegen der fehlenden Zulassung jedoch als Badezusatz oder ähnlich deklariert in der Kosmetikabteilung. Als „Hinterhofgemische“ bezeichnet der Wissenschaftler von der Universität Hohenheim die Tabletten, Pulver oder Tropfen abschätzig.

Doch nun steigen große Konzerne in das Geschäft ein. Auch die Süßstoffhersteller bereiten sich auf einen möglichen Stevia-Boom vor. Nordzucker hat im Frühjahr ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem Steviahersteller Pure Circle gegründet und experimentiert seither in einem Labor in Kopenhagen mit dem Stoff. 

Andere Unternehmen sind da schon weiter. Die bayerische Molkerei Andechser wollte nicht mehr auf die schon lange anstehende EU-Entscheidung warten und verkauft schon seit einiger Zeit Jogurt in den Geschmacksrichtungen Orange-Sanddorn und Maracuja-Banane, das mit Stevia gesüßt ist. Im Frühjahr musste Firmenchefin Barbara Scheitz die Jogurts noch aus den Regalen nehmen, doch sie wehrte sich dagegen. Im September erlaubte das Münchener Verwaltungsgericht dann den Verkauf der Jogurts, da sie nicht mit Stevia-Extrakt sondern mit Stevia-Tee gesüßt seien, der schon länger in Europa verwendet wurde.

Durchwachsene Verkaufserfolge 

Auch der Lebensmittelriese Danone experimentiert mit der Natursüße. In Frankreich, wo Stevia 2009 befristet für zwei Jahre zugelassen wurde, verkauft das Unternehmen ein Stevia-Joghurt. Der Verkaufserfolg ist nach Angaben von Branchenkennern jedoch durchwachsen.

Ähnliche Beobachtungen kann man in der Schweiz machen, wo es ebenfalls seit einiger Zeit eine Sonderzulassung gibt. „Man findet dort fast keine Stevia-Produkte auf dem Markt“, sagt Kienle. Der größte Schweizer Einzelhändler Migros, nahm verschiedene Limonaden, die als „Getränke-Revolution“ beworben waren, sogar wieder aus den Regalen.

Die Lebensmittelriesen sondieren nun erst einmal die Lage. Kein großes Unternehmen will sich derzeit dazu äußern, ob und wann Stevia-Produkte in Deutschland verkauft werden sollen. Ein Problem sind die Rezepturen: da Stevia viel süßer ist als Zucker, ändert sich beispielsweise die Konsistenz von Marmeladen oder Kuchen. Zudem ist da noch der leichte Nebengeschmack, der nicht jedermanns Sache ist. „Wir versuchen noch dem Nachgeschmack beizukommen“, heißt es daher bei einem großen Nahrungsmittelunternehmen, das sich offiziell nicht zu seinen Plänen äußern möchte. Neue Produkteinführungen sind teuer und so beäugt sich die Konkurrenz argwöhnisch. „Alles wartet derzeit ab, doch wenn die Großen auf den Markt gehen, werden andere nachziehen“, sagt Kienle.

Stevia rebaudiana stammt ursprünglich aus Paraguay. Der Süßstoff aus der Pflanze wächst natürlich, ist deutlich süßer als Zucker und dabei kalorienfrei. Quelle: dpa

Vergleichsweise einfach lässt sich Stevia in Getränken einsetzen, in dieser Sparte gibt es neben dem Verkauf als Süßstoff das größte Potenzial. Zumal neben Cargill Coca Cola der größte Treiber des Stevia-Einsatzes ist. Beide haben Truvia gemeinsam entwickelt und das Zulassungsverfahren bei der EU vorangetrieben. Weltweit hat der Getränkegigant schon 30 Produkte auf den Markt gebracht, die mit Stevia gesüßt werden.

Coca Cola verbraucht etwa zehn Prozent der weltweiten Süßstoffproduktion, doch im Zuge der Diskussion um Fettleibigkeit sind die zuckerhaltigen Brausen in die Kritik geraten. Seit 2000 ging der Limonadenkonsum in den USA um fast ein Fünftel zurück und so versucht Coke, sich ein gesünderes Image zu verpassen.

Niedrige Grenzwerte für Stevia 

Die kalorienfreie Natursüße passt da perfekt in die Strategie, 29 Patente hat Coca Cola im Zusammenhang mit Stevia schon beantragt. Doch es gibt einen großen Haken: Obwohl die EU-Kommission die Stevia-Nutzung nun zugelassen hat, sind die Einsatzmöglichkeiten begrenzt. Denn es wurden auch Grenzwerte festgelegt, die sich an der Tagesdosis orientieren.   

„Der Grenzwert ist viel zu niedrig“, kritisiert Kienle, „denn damit ist keine komplette Süßung möglich“. Maximal 30 Prozent der bisherigen Süße können künftig durch Stevia ersetzt werden, schätzt der Forscher. Der Rest und damit mehr als zwei Drittel müssen weiterhin mit Zucker oder herkömmlichen Süßstoffen erfolgen. „Da wird sich mancher Verbraucher natürlich fragen, wo der Zusatznutzen ist“, sagt Kienle.

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