Textilien Brennnesseln zum Kuscheln

Statt umweltschädlicher Baumwolle soll das vermeintliche Unkraut bald Fasern für T-Shirts, Hemden und Hosen liefern.

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Feld-Herren Manager Moser (links) und Firmeninhaber Larsen-Mattes im Versuchsacker. Quelle: Andreas Körner für WirtschaftsWoche

Wehe dem, der einer Brennnessel zu nahe kommt. Schon bei der leichtesten Berührung bohren sich messerscharfe Brennhaare in die Haut und jagen winzige Mengen eines Giftcocktails hinein. Der hat es in sich: Jucken, Quaddeln, Schmerzen zählen zu den Folgen. Werner Moser, Verkaufsleiter von Europas größtem Maschenwarenhersteller Mattes & Ammann, liebt die wehrhafte Pflanze trotzdem. So sehr, dass er sie im großen Stil anbaut. Denn Moser und sein Chef, Firmeninhaber Christoph Larsen-Mattes, haben Großes vor: Sie wollen aus Brennnesseln Garne gewinnen und mit diesen T-Shirts, Hemden und Stoffe für die Automobilindustrie stricken. Damit würden sie der Baumwolle Konkurrenz machen, die die Weltmärkte dominiert – und nach eigenen Angaben deutlich umweltschonender sein als das „Weiße Gold“.

Die beliebtesten Textilhersteller

„Als 2011 die Preise für Baumwolle um fast 200 Prozent stiegen, war das für uns der letzte Anstoß, nach Alternativen zu suchen“, sagt Moser. Denn das schwäbische Unternehmen verarbeitet jedes Jahr bis zu 1000 Tonnen Baumwolle, da drückt jede Preiserhöhung schmerzhaft die Marge.

Genügsame Brennnessel

Moser und seine Kollegen experimentierten mit Leinen und Hanf. Am Ende entschieden sie sich dann für die Brennnessel. Garn aus ihren Fasern „leuchtet ungefärbt cremeweiß, glänzt edel und ist wunderbar kuschelig weich“, schwärmt Moser. Zudem ist die Hohlfaser sehr reißfest und kann viel Feuchtigkeit aufnehmen. Eine erste Kollektion mit T-Shirts gibt es bereits, von der Düsseldorfer Modedesignerin Gesine Jost entworfen.

Neben diesen Stärken ist die Brennnessel im Anbau sehr genügsam. Das unterscheidet sie von der Baumwolle, deren enormer Durst große Umweltschäden verursacht. Das dramatischste Beispiel dafür ist der Aralsee in Zentralasien. Der Baumwollanbau in der Region ließ den einst viertgrößten Süßwassersee der Welt auf weniger als ein Zwanzigstel schrumpfen. Kein Wunder, die Herstellung eines einzigen T-Shirts verbraucht bis zu gigantischen 15 000 Liter Wasser, hat die Hamburger Beratung Systain Consulting ermittelt.

Wegwerfen kommt nicht infrage

So besannen sich Moser und Larsen-Mattes, deren Unternehmen etwa 60 Millionen Euro jährlich umsetzt, auf die alte Nutzpflanze Brennnessel. Zuerst setzten sie 40.000 Pflanzen des vermeintlichen Unkrauts auf einen Versuchsacker in Sichtweite des Firmensitzes im 1000-Einwohner-Dorf Tieringen bei Messstetten auf der Schwäbischen Alb. Obwohl der auf mehr als 800 Metern liegt, gediehen die Pflanzen inmitten von dunklem Wald und saftig grünen Wiesen.

Das war aber erst der Anfang: Um die Garne effizient produzieren zu können, mussten die schwäbischen Tüftler ein neues Verfahren entwickeln, um die Nesselfasern aus den Pflanzen zu holen. Das haben sie mittlerweile zum Patent angemeldet.

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Ergebnis: 15 Prozent jeder Pflanze lassen sich zu Garn verarbeiten. Und der Rest? Wegwerfen kommt aus ökologischen Gründen nicht infrage. Die Schwaben stießen auf altes Wissen aus Kriegszeiten, als die Nessel eher kratziger Billigstoff war, und kauften Know-how aus Hochschulen ein. Die Blätter, die besonders viele Mineralien und Eiweiß enthalten, eignen sich für Tees, aber auch für die Viehmast. Die energiereichen Samen gehen in die Gastronomie. Der fasrige-holzige Rest wird am Ende zu Pellets gepresst, deren Heizwert, so Moser, genauso hoch ist wie der von Buchenholz. „Heute können wir mehr als 80 Prozent der Pflanze verwerten“, sagt Firmeninhaber Larsen-Mattes.

Mittlerweile baut das Unternehmen die Pflanzen auf zehn Hektar in Ungarn, nahe der rumänischen Grenze, an. 110 000 Brennnesseln pflanzten Mitarbeiter dort, die Pflanzen wachsen ganz ohne Bewässerung fast drei Meter hoch. „Wenn die Böden stickstoffreich und nicht zu trocken sind, sind sogar zwei Ernten pro Jahr möglich“, sagt Kai Nebel, Forschungskoordinator der Fakultät Textil & Design der Hochschule Reutlingen, die sich seit Jahren mit der Pflanze befasst. Nebel betreut das Projekt und traut der Brennnessel eine wichtige Rolle als Baumwoll-Alternative zu.

Doch noch sind die Nesselgarne mindestens doppelt so teuer wie die aus Baumwolle – und so begrenzt konkurrenzfähig. Daher zieht es Moser weiter: Gerade war er in China auf der Suche nach Anbauflächen und Wissen über die Verarbeitung.

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