Der Blick auf aktuelle E-Mobile erinnert zunehmend an Quartett-Spiele zu Grundschulzeiten. Da zählten Hubraum, Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigung, um die Mitspieler auszustechen. Und offenbar hat sich daran auch im Zeitalter der aufkommenden E-Mobilität nichts geändert.
Ob der neue Kleinwagen Smart #1 oder die Luxuslimousine Lucid Air eine besonders große Reichweite bei minimalem Energieverbrauch aufweisen, scheint für die Entwickler eines Großteils der Elektrogefährte nicht zu zählen – stattdessen Tempo und Beschleunigungsorgien. Smart etwa bewirbt selbst die Basisversion des neuen Viersitzers, der in diesen Tagen in den Handel kommt, vehement mit dessen enormen Beschleunigungswerten von nur 6,7 Sekunden von 0 bis 100 km/h.
Zum Vergleich: Der einst als Rakete auf Rädern geschätzte Ur-Golf GTI von Volkswagen brauchte für diesen Sprint knapp zehn Sekunden. Die überzüchtete Lucid-Limousine katapultieren zwei E-Motoren mit rund 1000 PS Systemleistung sogar in nur 2,6 Sekunden auf Tempo 100. Endgeschwindigkeit rund 300 km/h.
Wer glaubt, das seien Exzesse tempoverliebter Autodesigner, die zumindest Reste des Bleifußdenkens vergangener Dekaden ins Zeitalter der E-Mobilität hinüberretten wollen, der irrt. Analysen von Stefan Bratzel, dem Chef des Center of Automotive Management, belegen: Die Tempotaktik hat System.
Der Anteil von großen und besonders leistungsstarken Modellen im Fahrzeugmix der Autohersteller ist bei Elektroautos verglichen mit klassischen Benzin- oder Diesel-Pkw überproportional hoch. „Statt beim Umstieg auf die E-Mobilität und der Konzeption neuer Fahrzeuge auf Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit und Effizienz zu setzen, verharren die Hersteller im alten Bleifußdenken einer vergangenen Zeit“, konstatiert der Autoexperte.
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Das ist ein gefährlicher Irrtum. Natürlich gibt es auch unter jüngeren Menschen noch Fans des forcierten Tritts aufs Gaspedal. Aber immer weniger junge Menschen lassen sich davon begeistern. Autokäuferinnen und -nutzer unter 30 haben mehrheitlich ganz andere Prioritäten als Beschleunigungsexzesse auf Rädern. Die überproportional höhere Akzeptanz für Tempolimits unter jüngeren Menschen belegt das.
Bei den traditionellen Autobauern aber scheint das kaum jemandem aufgefallen zu sein. Sie entfernen sich mit ihrer aktuellen Modellstrategie gerade im Höchsttempo von ihren künftigen Kunden. Statt diese mit für sie relevanten Eigenschaften wie etwa minimalem Ressourcenverbrauch zu begeistern, verharrt die Branche in überkommenen Denkmustern und droht so, die Kundschaft von morgen zu verfehlen.
Ein zukunftsträchtiger Neustart in die E-Mobilität jedenfalls sieht anders aus, als in 6-Komma-Nix Sekunden auf Tempo 100 zu beschleunigen.
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