Urban Wiesing im Interview „Die Grenzen der Pluralität“

Der Tübinger Medizin-Ethiker Urban Wiesing erklärt, warum es bei der Stammzelldebatte im Bundestag nicht nur um den Schutz von Embryonen geht.

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Urban Wiesing, 49, studierte in Münster Medizin und Philosophie. Nach Promotionen in beiden Fächern und der Habilitation über ein medizinhistorisches Thema wurde er 1998 Professor für Ethik an der Universität Tübingen, wo er seit 2002 das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin leitet Quelle: Peer Brecht für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Professor Wiesing, vor wenigen Wochen diskutierte der Bundestag fast vier Stunden lang über embryonale Stammzellen und die Forschung an ihnen. Nach Ostern steht eine mögliche Änderung des deutschen Stammzellgesetzes an. Vier Anträge sind gestellt – jeweils von Menschen aus unterschiedlichen Parteien. Was macht die Entscheidung so schwierig?

Wiesing: Dass es nicht nur um die ethischen und rechtlichen Aspekte bei der Anwendung von Stammzellen geht, sondern um eine Grundfrage unserer Gesellschaft – mit unversöhnlichen Gegensätzen. Die Debatte trägt Züge eines Kulturkampfes, wie Bischof Huber zu Recht bemerkte. Hier wird nicht wirklich über Stammzellen und Embryonen verhandelt, sondern über etwas ganz anderes.

Worüber denn?

Es geht um die Grenzen der Pluralität. Und es geht um politische Verbindlichkeit bestimmter Vorstellungen für alle. Es geht um die Macht, eine bestimmte Interpretation des Menschen als verbindlich vorzuschreiben und andere als falsch zu diskreditieren. So stellen sich das die Vertreter des restriktiven Standpunktes, die ich als „Lebensschützer“ bezeichne, vor.

Ist es nicht nachvollziehbar, dass Menschen mit dem Töten von Embryonen Probleme haben?

Das ist natürlich nachvollziehbar. Aber die Argumentation der Lebensschützer zielt nicht nur auf den Schutz von Embryonen ab. Es geht um mehr in dieser Debatte.

Das müssen Sie erklären. Wie meinen Sie das?

Fangen wir bei der Forschung an. Das – noch ungewisse – Ziel, mithilfe von embryonalen Stammzellen einst Gewebeersatz zur Heilung oder Linderung von Krankheiten zu schaffen, wird als ethisch erstrebenswert angesehen, auch von Lebensschützern. Es entspricht auch der staatlichen Verpflichtung zur Gesundheitsförderung. Selbst die Freiheit der Wissenschaft steht nicht grundsätzlich in Zweifel. Doch dann beginnen die Einwände. Das zentrale Gegenargument ist der Schutz ungeborenen Lebens, werden doch bei der Gewinnung von embryonalen Stammzellen Embryonen verbraucht.

Was ist daran falsch?

Die Lebensschützer berufen sich auf den moralischen Status eines Embryos, den uneingeschränkten Schutz menschlichen Lebens von seinem biologischen Beginn an. Dies sei das von der Verfassung vorgegebene Recht, die Würde sei „einer Abwägung nicht zugänglich“, heißt es in dem entsprechenden Antrag. Deswegen dürfe man Embryonen nicht für Forschung „verbrauchen“. Dieser Gruppe geht es um die Verteidigung eines fundamentalen Wertes unserer Gesellschaft, der ihrer Meinung nach nicht verhandelbar ist.

Das kann man doch so sehen, oder?

Kann man, muss man aber nicht. Die Vertreter einer liberalen Richtung gehen davon aus, dass man einen umfassenden Schutz des Embryos in der frühen Phase seiner Entwicklung in einem pluralen, säkularen Rechtsstaat nur religiös, nicht aber allgemeinverbindlich begründen kann, auch nicht mit unserem Grundgesetz.

Dann wäre ein Embryo völlig schutzlos?

Nein, natürlich nicht. Denn ich kenne niemanden in der politischen Debatte, der befruchtete menschliche Eizellen für wertlos hält. Trotzdem gibt es eine Vielzahl von Philosophen und einige Verfassungsjuristen wie etwa Horst Dreier, die nur einen abgestuften Lebensschutz des Embryos in seiner Frühphase für begründbar halten.

Deshalb wird diskutiert. Wo ist das Problem?

Es besteht darin, dass einzelne Wertegemeinschaften oder Kirchen ihre Zuständigkeit überschreiten, indem sie nicht nur für ihre Gemeinschaften sprechen, sondern glauben, das für die ganze Gesellschaft zu tun. Ich finde, jeder Diskussionsteilnehmer sollte eines anerkennen: Man kann in der Frage des Embryonenschutzes unterschiedlicher Meinung sein.

Was sagen denn die Biologen zur Frage, wann das menschliche Leben beginnt?

Dass mit der Verschmelzung der beiden Chromosomensätze von Ei- und Samenzelle vor der ersten Teilung oder nach den ersten Teilungen ein neues menschliches Wesen im biologischen Sinne entstanden ist. Aber das hilft uns überhaupt nicht weiter. Denn es ist keineswegs klar, wie schützenswert menschliches Leben zu diesem Zeitpunkt ist. Das kann die Biologie nicht beantworten. Es bedarf weiterer, nichtbiologischer Zusatzannahmen, um das Schutzniveau eines Embryos festzulegen, und die sind eben notorisch umstritten.

Dann müssten Sie doch begeistert sein, dass der Bundestag sich der Sache annimmt.

Ja und nein. Denn die Lebensschützer wollen an dieser Stelle ja gar nicht diskutieren. Die Kernfrage lautet also: Darf ein Staat beim moralischen Status von frühen Embryonen unterschiedliche Meinungen akzeptieren oder nicht, wie es die konsequenten Lebensschützer beanspruchen. An dieser Stelle ist es ganz entscheidend zu wissen, dass der Staat längst einen abgestuften Lebensschutz praktiziert. Die Stammzelldebatte ist ein Stellvertreterkrieg. Es geht nicht darum, Embryonen effektiv zu schützen, denn die werden in anderen Bereichen viel häufiger am Weiterleben gehindert.

Wovon sprechen Sie? Von Schwangerschaftsabbrüchen?

Nein, die lassen wir mal außen vor. Wenn die Lebensschützer wirklich Embryonen schützen wollen, müssten sie sich der Spirale, einigen Formen der Mini-Pille und der „Pille danach“ zuwenden, denn diese Maßnahmen hindern Embryonen millionenfach daran, sich aus jenem frühen Stadium weiterzuentwickeln, das geschützt werden soll. Diese Verhinderung des Weiterlebens früher Embryonen geschieht mit Teilfinanzierung der Krankenkassen, ohne zwingenden Grund und ohne das Dilemma ungewollter Schwangerschaften. Hier ließe sich viel mehr für den Embryonenschutz tun. Zudem lagern Zehntausende befruchtete Eizellen im Vorkernstadium in deutschen Laboren, weil sie nach dem Wortlaut nicht unter das Embryonenschutzgesetz fallen, und unklar ist, was mit ihnen geschieht. Wer also ernsthaft Embryonen in quantitativ bedeutsamem Maß schützen wollte, hätte auf anderen Gebieten viel mehr zu tun als bei den 20 bewilligten Anträgen zur embryonalen Stammzellforschung bis Anfang 2007.

Möglicherweise ist diese Problematik den Diskutanten gar nicht klar?

Natürlich ist sie das, denn Forscher weisen seit Jahren, seit die Debatte in Deutschland läuft, immer wieder darauf hin, wie unglaubwürdig die Argumentation ist.

Warum gehen die Lebensschützer Ihrer Meinung nach nicht darauf ein?

In dem Augenblick, in dem die Lebensschützer zugeben würden, man könnte beim Embryonenschutz mit guten Argumenten anderer Meinung sein, müssten sie ihre Meinung als eine Partikularmeinung ansehen und der Liberalisierung zustimmen. Sie könnten dann nur noch für ihre Wertegemeinschaft, beispielsweise für ihre Kirche, sprechen. Weil sie ihre Auffassung aber für ein unverzichtbares Fundament einer Gesellschaft halten, soll der Pluralität hier eine Grenze gesetzt werden. Man dürfe hier nicht unterschiedlicher Meinung sein.

Wie kommen die Parlamentarier aus dem Entscheidungsdilemma?

Ein säkularer Staat, der zu diesem Streit eine übergeordnete Position einnehmen sollte, muss meiner Meinung nach argumentieren, dass man die Argumente bestimmter Wertgemeinschaften wie etwa der katholischen Kirche eben nicht für alle Mitglieder unserer Gesellschaft verbindlich machen kann, sondern allenfalls für die Mitglieder dieser Wertegemeinschaften. Und deshalb sollte der Staat die Embryonenforschung in sehr engen Grenzen erlauben. Denn ich glaube nicht, dass die Pluralität unserer Gesellschaft beim Embryonenschutz aufhören muss. Und wir werden nicht unsere moralische Basis zerstören , wenn wir die Forschung an embryonalen Stammzellen zulassen und die Grenzen etwas weiter fassen als bisher.

Andere Länder wie Großbritannien, Schweden und sogar Spanien tun das ja schon.

Eben. Doch diese und weitere Länder müssten wir dann konsequenterweise aus der Gruppe zivilisierter Länder streichen. Das ist doch hochmütig. Ich maße mir nicht an, Israel und andere Länder aus dem Kreis der zivilisierten Nationen auszuschließen, nur weil sie mit guten Gründen und innerer Überzeugung Embryonenforschung erlauben.

Was für einen Ausgang erhoffen Sie sich für die nächste Bundestagsdebatte?

Ich hoffe auf eine Anpassung des 2002 gefundenen Kompromisses an die neuen Gegebenheiten, damit deutsche Forscher nicht ins Hintertreffen geraten. Für den weltweiten Fortgang der Stammzellforschung ist das allerdings vermutlich unerheblich. Stellvertreterkriege sind in der Regel für die Sache, um die gekämpft wird, weitgehend irrelevant. Wie sie ausgehen, hat kaum eine Bedeutung. Und so ist es auch in dieser Debatte. Es mag ernüchternd klingen, aber was der Bundestag in Kürze entscheiden wird, dürfte langfristig allenfalls als Fußnote in die Geschichte der Stammzellforschung eingehen. Sie wird international auf jeden Fall weitergehen.

Und was heißt das für Deutschland?

Dass die Forschung hier zum Erliegen kommt, wenn die Weichen gegen die Forschung gestellt werden. Doch keine Sorge: Sobald etwas Nützliches aus der Stammzellforschung hervorgeht, wird Deutschland nicht darauf verzichten, genau dieses zu nutzen, schon gar nicht, wenn es um Gesundheitsleistungen geht. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive ist die Debatte ein Ausdruck verantwortungsloser deutscher Scheinheiligkeit in der Entwicklung und Nutzung neuer Technologien – nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

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