WIRTSCHAFT VON OBEN #361 – Chinas Weihnachtswunder: Aus dieser chinesischen Stadt kommen Ihre Christbaumkugeln
Wer sich im internationalen Handelszentrum der chinesischen Stadt Yiwu zurechtfinden will, braucht einen Stadtplan. Doch auch mit dessen Hilfe kann man auf der fünf Millionen Quadratmeter großen Einkaufsfläche schnell den Überblick verlieren.
Menschenmengen schieben sich durch verwinkelte Gänge, vorbei an schier endlosen Reihen winziger Läden. Alle haben die gleiche Form: 2,5 mal 2,5 Meter sind sie groß. Aus ihren Eingängen quellen Plastikblumen, aufblasbares Spielzeug, Regenschirme, Eimer, Uhren. Alles blinkt, glitzert und spielt Musik.
Einkaufstüten trägt hier keiner bei sich. Wer hier einkauft, tut das nicht für sich, sondern im Namen internationaler Handelsketten, großer Kaufhäuser oder Hotelketten. In Yiwus International Trade City beträgt der Mindestbestellwert meist einen Container.
Bilder: LiveEO/Maxar, LiveEO/Airbus/Pleiades-Neo
Besonders bekannt ist der Großhandelsmarkt für sein ausuferndes Angebot an Weihnachtsdekoration. Halle 1 gleicht einem Labyrinth aus Lametta, LED-Schneeflocken und blinkenden Plastikbäumen. Nicht ohne Grund wird Yiwu auch als „Chinas Weihnachtsstadt“ bezeichnet. Rund 600 Fabriken produzieren in der Region Weihnachtsschmuck. Nach Angaben der örtlichen Zollbehörde exportierte Yiwu allein im ersten Halbjahr 2025 Weihnachtsprodukte im Wert von 244 Millionen US-Dollar. Das sind gut 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Dazu, wie groß Yiwus Marktanteil an der weltweiten Weihnachtsdekoration genau ist, gibt es verschiedene Angaben: Die Stadt spricht von zwei Dritteln aller Weihnachtsdekoration, chinesische Staatsmedien gar von bis zu 80 Prozent. Festhalten lässt sich aber: Wer einen Christbaum schmückt oder eine Lichterkette ans Fenster hängt, hat mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ein Produkt aus Yiwu in der Hand.
Dabei war Yiwu vor vierzig Jahren hauptsächlich für seine Landwirtschaft bekannt. Der Landkreis war arm. Was die Menschen nicht selbst herstellen konnten, besorgten sie sich über Tauschhandel. In der Nebensaison besserten die Bauern ihr Einkommen auf, indem sie Kleinwaren fertigten und auf den Straßen verkauften.
1982 öffnete die Stadtverwaltung dann den ersten offiziellen Markt für Kleinwaren. Damit wurde eine informelle Praxis institutionalisiert und gewann so an neuer Dynamik. Aus Bauern wurden Produzenten, die Infrastruktur wurde ausgebaut und immer mehr Händler siedelten sich in der Region an. Heute ist Yiwu eine wohlhabende Stadt, Knotenpunkt zwischen China und Europa, und gilt als Ursprung von „Made in China“.
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Fabriken im Zentrum mussten inzwischen Büros, Hotels und Wohnblöcken weichen. Stattdessen sind die überwiegend im Umland angesiedelt. Bis heute verläuft die Produktion wenig automatisiert. Näherinnen und Näher produzieren Stück für Stück: erst Nikolausmützen, dann Herzkissen, schließlich Osterkörbchen, später Vampirumhänge. Das Jahr folgt hier einem strengen Rhythmus: Die Weihnachtssaison endet im September. Dann wird auf Oster- und Valentinstagsartikel umgestellt, später auf Halloween-Dekorationen. Im späten Frühling beginnt die Weihnachtsproduktion dann von vorn.
Dabei wissen die Menschen, die hier arbeiten, weder, was Weihnachten, Ostern noch der Valentinstag oder Halloween ist. Bei den Arbeitern handelt es sich hauptsächlich um Binnenmigranten aus ländlichen chinesischen Regionen. Lokalen Berichten zufolge arbeiten die Menschen hier über zehn Stunden am Tag und verdienen pro Monat nur wenige Hundert Euro.
Hafen Ningbo-Zhoushan, Beilun, Ningbo, Zhejiang, China
18.12.2022: Der Hafen von Ningbo ist der größte Frachthafen der Welt: Entlang der nutzbaren Küstenlinie von 3,683 km befinden sich 20 Terminals.
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Containerweise werden die Produkte später in die Welt gesendet. Logistisch ist Yiwu ideal angebunden. Einer der größten Häfen des Landes liegt 130 Kilometer Luftlinie östlich der Stadt. Und auch Shanghais Hafen, der weltweit führende Containerhafen, ist nur wenige Stunden entfernt.
Eine schnellere Alternative bietet seit 2014 außerdem die Schiene. Im Zuge der von Staats- und Parteichef Xi Jinping vorangetriebenen „Neuen Seidenstraße“ wurde Yiwu zu einem wichtigen Knotenpunkt im Güterverkehr zwischen China und Europa ausgebaut. Die Züge fahren von dort rund 13.000 Kilometer über Kasachstan nach Westeuropa. Die 18 Tage sind die Güter so unterwegs und somit deutlich schneller als per Schiff. Der Seeweg braucht fast zwei Monate.
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Als wichtigster Kunde der Unternehmen aus Yiwu galten lange die USA. Die Beziehung aber bekam bereits während Donald Trumps erster Amtszeit Risse. Als der Handelskrieg in diesem Jahr seinen bisherigen Höhepunkt erreichte, endeten viele Partnerschaften ganz.
In Yiwu aber war man vorbereitet. Die letzten Jahre haben die chinesischen Händler genutzt, um Kundenbeziehungen in andere Regionen der Welt aufzubauen. Neue Abnehmer gewannen sie in Europa, Südostasien, Afrika, Südamerika und im Nahen Osten.
Yiwus Weihnachtssortiment ist zudem auch im chinesischen Inland mehr und mehr gefragt. Obwohl die Führung um Staats- und Parteichef Xi Jinping versucht, westliche Einflüsse zurückzudrängen, hat sich Weihnachten inzwischen in den großen Metropolen des Landes in Mittel- und Oberschicht als Konsumereignis etabliert. Der Weihnachtsmann, schrieb der „Economist“ einmal, sei vielen Chinesen inzwischen vertrauter als Jesus.
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In diesem Jahr hat Yiwu sein internationales Handelszentrum um eine neue Halle erweitert. Am 14. Oktober 2025 eröffnete die Stadt Distrikt 6, das digitale Handelszentrum des Großhandelsmarkts. Der neue Komplex verfügt über eine Fläche von 1,25 Millionen Quadratmetern und bietet Platz für 3700 Händler. Die einzelnen Verkaufsflächen sind hier mit rund 30 Quadratmetern deutlich größer angelegt als in den anderen Messehallen. Verkauft werden Schmuck und Spielwaren, aber auch intelligente digitale Geräte wie Drohnen und Roboter. Es scheint, als wolle Yiwu zeigen, dass es mehr kann als billige Produkte und hohe Stückzahlen.
Langfristig aber strebt Yiwu einen noch radikaleren Kurswechsel an. Wang Hao, Parteisekretär der Provinz Zhejiang, sagte Anfang des Jahres, Yiwu sei lange dafür bekannt gewesen, Waren in die Welt zu liefern. Nun müsse die Stadt eine neue Aufgabe übernehmen: den Einkauf in der Welt. Rückendeckung kommt aus Peking. Der Staatsrat, Chinas Kabinett, billigte einen von der Provinzregierung vorgelegten Entwicklungsplan, in dem die Förderung von Importen ausdrücklich als Ziel für Yiwu festgeschrieben ist.
Heißt: Yiwu muss sich neu erfinden. Die Stadt soll künftig nicht mehr nur exportieren, sondern auch importieren. Um so den Exportüberschuss des Landes zu senken und internationalen Unternehmen dabei zu helfen, ein Standbein in China aufzubauen. Vor allem aber, um die internationalen Handelsbeziehungen zu beruhigen. In den Regalen könnten somit bald also auch internationale Waren zum Verkauf stehen.
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