Christian Jäde ist nicht zu beneiden. Der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Braunschweig sitzt mehr als 50 Anwälten gegenüber und setzt sich mit ihnen darüber auseinander, was im VW-Dieselskandal alles passiert ist – und wann möglicherweise VW den Kapitalmarkt über den Betrug hätte informieren müssen oder nicht. Einigkeit sieht anders aus, zu fast jedem Punkt gibt es teils heiße Diskussionen – mit Klägeranwalt Andreas Tilp beispielsweise: „Ich habe gehört, was Sie sagen - ich verstehe es aber nicht.“
Doch in einer Verhandlungspause macht Tilp, der die Musterklägerin Deka Investment in dem Mammut-Verfahren vertritt, nicht ohne Triumph klar: „Der Senat hat gesagt, VW hätte ab dem 10. Juli 2012 den Markt informieren müssen über die vorgenommene Manipulation der zweiten Motorengeneration.“ Dabei geht es um Modelle in den USA und den Skandalmotor, dessen Abgasreinigung VW per Abschalteinrichtung manipuliert hat.
Volkswagen sieht das etwas anders: Das Gericht habe lediglich angeblichen Ansprüchen aus der Zeit vor dem 10. Juli 2012 eine Absage erteilt, diese seien verjährt, sagt VW-Anwalt Markus Pfüller. Wichtig sei, dass das Gericht ausschließlich eine kapitalmarktrechtrechtliche Beurteilung vornehmen wolle. Bewertet werde also nur das Verhalten gegenüber Anlegern.
Worum geht es eigentlich? VW-Investoren fordern im Musterverfahren Schadenersatz in Milliardenhöhe für erlittene Kursverluste nach Bekanntwerden des Dieselbetrugs. Die Richter müssen jetzt beurteilen, ob VW die eigenen Investoren rechtzeitig über die Affäre rund um millionenfachen Betrug mit manipulierten Dieselmotoren informiert hat.
Mit der Ende Februar eingereichten Klageerwiderung im Musterverfahren erklärt Volkswagen, es habe aus Konzernsicht keine konkreten Anhaltspunkte für eine Kursrelevanz der Affäre gegeben, bis die US-Umweltbehörden am 18. September 2015 unerwartet mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gingen. Tilp betont seinerseits, spätestens im Juni 2008 hätte Volkswagen zugeben müssen, die geltenden US-Stickoxidnormen nicht einhalten zu können.
Der Klägeranwalt hebt auch hervor: Das Gericht habe erklärt, dass die Beweislastumkehr zulasten von VW greife - das heißt, VW muss beweisen, dass dem Konzern nicht zur Last gelegt werden kann, wenn etwa leitende Angestellte unterhalb des Vorstands über den Betrug Bescheid wussten. Tilp betont, alle Ansprüche, die aus Käufen aus der Zeit nach Juli 2012 entstanden waren, seien nicht verjährt. „Die Tür ist offen ab dem 10. Juli 2012, und wir sind sehr zuversichtlich, dass es da Geld gibt.“
Die Vorgeschichte des VW-Abgasskandals
Volkswagen fällt die strategische Entscheidung, in den USA eine groß angelegte Dieseloffensive zu starten – trotz der dort viel strengeren Grenzwerte für Schadstoffemissionen.
VW tüftelt am Zwei-Liter-Dieselmotor EA 189, Audi entwickelt die größeren Drei-Liter-Antriebe. Doch die Entwickler realisieren bald, dass die Motoren die strengeren Abgas-Regeln, die in den USA ab 2007 gelten sollen, nicht erfüllen werden. Daraufhin wird eine Abschaltsoftware („defeat device“) entwickelt, die die Emissionen in Testsituationen reduziert, um die US-Umweltbehörden zu täuschen.
Mai: Die US-Staatsanwaltschaft wirft Winterkorn vor, schon ab diesem Zeitpunkt an der Verschwörung zum Betrug beteiligt gewesen zu sein.
17. Mai: Ein VW-Ingenieur beschreibt in einer E-Mail an die VW-Entwickler die von Audi entwickelte Software. Er warnt vor deren Einsatz in US-Dieselmotoren, weil sie nur der Umgehung von Abgas-Tests diene.
November: Ein Manager der Entwicklungsabteilung entscheidet nach einem Treffen mit Mitarbeitern, dass das „defeat device“ in US-Dieselmotoren eingesetzt werden soll. Man solle sich nur nicht erwischen lassen.
5. Oktober: Es gibt immer wieder technische Probleme mit der Entwicklung der Dieselmotoren und Diskussionen in dem Team, das für die Einhaltung von Abgaswerten in den USA verantwortlich ist. Bei einem Treffen entscheidet ein Manager, dennoch mit den manipulierten Motoren weiter zu machen.
VW startet die Werbekampagne „Clean Diesel“ in den USA – der Jetta TDI wird auf der Automesse in Los Angeles zum „Green Car of the Year“ gekürt.
VW-Modelle mit den manipulierten Zwei-Liter-Dieselmotoren kommen in den USA auf den Markt. Größere VW-Modelle sowie Audi- und Porsche-Fahrzeuge werden mit dem manipulierten Drei-Liter-Motor verkauft.
Februar: Die kalifornische Umweltbehörde CARB beauftragt das Forschungsinstitut International Council on Clean Transportation (ICCT) mit der Überprüfung von Abgas-Emissionen bei VW-Diesel-Fahrzeugen.
Frühjahr: Getestet werden ein Jetta Baujahr 2012 und ein Passat Baujahr 2013 auf den Straßen rund um Los Angeles. Das Ergebnis: Im Normalbetrieb sind die Abgasemissionen bis zu 35mal höher als im Labor. Die Daten werden genauer analysiert.
März: VW-Mitarbeiter erfahren von den Ergebnissen der ICCT-Studie. In den folgenden Wochen bittet die CARB Volkswagen um Erläuterung der Abgasemissionen. In der VW-Entwicklungsabteilung wird eine Task Force gegründet, um Antworten auf die Fragen der Umweltbehörde zu formulieren. Es wird entschieden, scheinbar mit den US-Behörden zu kooperieren, die Existenz eines „defeat device“ aber zu leugnen.
23. Mai: VW zufolge wird eine Notiz über die ICCT-Studie der Wochenendpost von Konzernchef Martin Winterkorn beigelegt. Ob er diese gelesen habe, sei nicht dokumentiert. Der US-Staatsanwaltschaft zufolge wird in dieser Mail explizit erwähnt, dass US-Behörden wohl nach einer Abschalteinrichtung, einem „defeat device“, in den VW-Dieselmotoren suchen würden.
1. Oktober: In einem Treffen mit der CARB erklären VW-Vertreter die höheren Abgaswerte mit technischen Gründen und Fahrverhalten, das „defeat device“ wird nicht erwähnt.
27. Juli: VW zufolge beraten sich einzelne Mitarbeiter am Rande einer Routinebesprechung („Schadenstisch“) über die Diesel-Thematik, in Anwesenheit von Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess. Laut US-Staatsanwaltschaft wird das leitende VW-Management inklusive Winterkorn an diesem Tag über das „defeat device“ informiert und auch über den Umstand, dass die US-Behörden darüber noch nicht Bescheid wissen. Medienberichten zufolge, die aus Zeugenaussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft Braunschweig zitieren, soll dabei auch schon über die Höhe eines möglichen Bußgelds gesprochen worden sein. Volkswagen hält dem entgegen, das Ausmaß und mögliche finanzielle Folgen der Abgasmanipulation seien erst viel später klar geworden.
18. August: VW-Manager entscheiden, dass man bei einem für den nächsten Tag geplanten Treffen mit CARB-Vertretern weiter lügt und das „defeat device“ nicht erwähnt.
19. August: Entgegen dieser Vorgabe deutet ein VW-Vertreter in dem Gespräch mit der CARB an, dass eine Software Abgaswerte in Testsituationen herunterregelt.
Ende August: VW zufolge erläutern VW-Techniker hauseigenen Juristen und den US-Anwälten die eigentliche Ursache für die Abweichungen der Abgas-Emissionen. Vorstandsmitglieder seien daraufhin zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich um ein unzulässiges „defeat device“ handele. Das solle der CARB und der US-Umweltbehörde EPA transparent kommuniziert werden.
3. September: In einer Telefonkonferenz mit CARB und EPA gesteht VW die Manipulation der Abgaswerte.
4. September: Winterkorn wird darüber durch eine Notiz unterrichtet. VW zufolge erklären Berater, dass solche Verstöße in den USA bisher auf dem Vergleichswege per Bußgeldzahlung geregelt wurden, die für Unternehmen von der Größe von VW nicht besonders hoch seien. Der Konzern habe mit einem Betrag im unteren dreistelligen Millionen-Bereich gerechnet, der angesichts von Rückstellungen nicht kursrelevant gewesen sei.
18. September: Die EPA macht am Abend das Geständnis öffentlich: VW habe vorsätzlich Abgasvorschriften bei rund 500.000 Diesel-Fahrzeugen umgangen. Die US-Umweltbehörde beziffert eine mögliche Strafe auf bis zu 18 Milliarden Dollar.
20. September: VW räumt die Abgas-Manipulationen nun selbst öffentlich ein und kündigt eine externe Untersuchung an.
21. September: Am ersten Börsenhandelstag nach dem öffentlichen Geständnis stürzt die VW-Aktie um 20 Prozent ab.
23. September: VW-Chef Winterkorn tritt zurück.
Ist das ein Durchbruch für die klagenden Anleger, die insgesamt knapp 9 Milliarden Euro an Schadenersatz geltend machen? Keineswegs, denn immer wieder gibt es Punkte, an denen Jäde es nach vorläufiger Beurteilung als fraglich ansieht, ob VW den Kapitalmarkt über den Dieselbetrug hätte informieren müssen. Und: Insgesamt gibt es in dem Verfahren 193 Feststellungsziele. Alle müssen geklärt werden - bislang hat das Oberlandesgericht dafür 13 Verhandlungstage angesetzt. Aber ob das reichen wird? Allein die Diskussion zum ersten Feststellungsziel dauert mehr als eine Stunde.
Was war eigentlich passiert? Unmittelbar nach Aufdeckung des Skandals durch die US-Behörden Ende September 2015 brach der Kurs der VW-Aktie ein – zeitweise verloren die Vorzugspapiere des Konzerns fast die Hälfte ihres Werts. Anleger erlitten heftige Verluste. Helfen soll das sogenannte Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMug) – dabei werden zentrale Fragen vorab von der nächsthöheren Instanz, in diesem Fall dem Oberlandesgericht, entschieden. Liegt der Musterentscheid vor, ist er für die Gerichte in allen Verfahren bindend.
Aus Tilps Sicht hat der Senat wichtige Pflöcke eingeschlagen. Er habe noch nie ein Musterverfahren erlebt, bei dem ein Senat sich „aus unserer Sicht schon verhalten optimistisch, aber klar positioniert hat“. Viel hängt von der Frage der Verjährung ab – doch da könnte VW möglicherweise zumindest verhalten jubeln: Denn die Ansprüche der Kläger bis zum Zeitpunkt Mitte 2012 könnten verjährt sein, sagt Jäde. Tilp hat hier wesentlich früher, nämlich eben schon 2008 angesetzt.
Aktionärsschützer fordern derweil, Manager künftig persönlich haften zu lassen, wenn sie Informationspflichten verletzen. „Die Politik sollte den Fall VW zum Anlass nehmen, Aktionären einen direkten juristischen Durchgriff auf verantwortliche Manager zu geben, statt sie dazu zu zwingen, gegen ihr eigenes Unternehmen zu klagen“, sagt Jürgen Kurz, Sprecher der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.