Fünf Jahre Lehman-Pleite - Teil VI Die Kunst der Bankenkrise

Mit der Lehman-Pleite wurde nicht nur die Finanzwelt, sondern auch die Kultur erschüttert. Für etliche Autoren, Regisseure und Maler war der Beginn der Bankenkrise eine wahre Inspirationsquelle.

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Die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers und die Finanzkrise wurden in der Literatur, im Theater oder der Malerei aufgegriffen. Quelle: dpa

New York Geoffrey Raymond war 52 Jahre alt, als er beschloss, sein Leben zu ändern. Am 4. Juli 2006, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, schloss der New Yorker seine kleine Agentur, die Werbung für Pharmaprodukte machte, und begann zu malen. Seine ersten Porträts bot er Passanten auf dem Gehsteig von Chelsea an. Das Thermometer stand auf 33 Grad, er wurde von Tauben zugeschissen. Es war, alles in allem, ein bescheidener Start.

Dann kamen die Finanzkrise und der Tag, an dem Lehman unterging.

Raymond würdigte die Vorgänge auf seine Weise. Er malte ein überlebensgroßes Porträt von Lehman-Chef Richard Fuld und setzte sich damit vor die Bank. Wenn Lehman-Mitarbeiter und Schaulustige vorbeikamen, drückte er ihnen Stifte in die Hand und bat um Anmerkungen auf der Leinwand. „Blutsauger“ kritzelte einer, „Was für ein Tag, was für ein Jahr“ ein anderer. Es war das Motiv für Fernsehkameras. Raymond und sein kommentierter Fuld wurden berühmt. „Das Bild traf einen Nerv“, erklärt sich der Künstler den Erfolg heute, fünf Jahre nach dem Fall von Lehman. „Es spiegelte den Moment, an dem die Welt ins Wanken geriet.“ Ein Banker kaufte das Graffiti-Gemälde vom Fleck weg, für 10.000 Dollar.

Der Schock des 15. September 2008 prägte nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Kultur – und bereicherte sie um Analytisches, Denkwürdiges und Skurriles. Künstler und Zeitzeugen haben das historische Ereignis aufgearbeitet und dabei, Ironie der Geschichte, nicht selten ein kleines Vermögen gemacht. Lehman und die Folgen: Das wurde Thema von Romanen und Sachbüchern, Filmen und Videos, Theaterstücken und Musicals. Der Streit über den richtigen Umgang mit der Krise brachte sogar eine 16minütige „Austeritäts-Oper“ hervor, die diesen April in der estnischen Hauptstadt Tallinn uraufgeführt wurde und dem bis dato weithin unbekannten Komponisten Eugene Birman zu einiger Prominenz verhalf.

Das wohl bekannteste Lehman-inspirierte Werk ist der Film „Wall Street: Geld schläft nicht“ von Oliver Stone. Der linke Starregisseur wollte mit der Aufarbeitung der Finanzkrise an seinen legendären Kinohit von 1987 anknüpfen, in dem die Machenschaften des gewissenlosen Bankers Gordon Gekko – Wahlspruch: Gier ist gut – im Zentrum stehen. Kommerziell gelang ihm das – Wall Street 2 spielte an den Kinokassen rund 135 Millionen Dollar ein. Inhaltlich hatte der Plot allerdings wenig Biss, die Finanzkrise diente eher als Kulisse für eine rührselige Familiengeschichte. Andere Filme gingen härter mit den Profiteuren der Spekulationsblase ins Gericht, etwa „Der große Crash“ (Originaltitel: Margin Call) von Regisseur J.C. Chandor, oder die Dokumentation „Inside Job“ von Charles Ferguson, die 2011 einen Oscar gewann.

Auch Bruce Springsteens Erfolg mit Wrecking Ball (Abrissbirne) wäre ohne Finanzkrise nicht denkbar gewesen. Der Rockmusiker gestaltete sein jüngstes Album als bittere Anklage gegen die „fat cats“, die fetten Bonzen. „Gambling man rolls the dice, workingman pays the bill/ It’s still fat and easy up on banker’s hill”, heißt es in dem Lied “Shacked and Drawn”: Der Spieler rollt die Würfel, der Arbeiter zahlt den Preis/im Bankenviertel ist’s immer noch locker und feist. Dabei ist der Boss, wie seine Fans ihn nennen, selbst nicht gerade ein armer Mann: Webseiten wie Celebrity Networth schätzen sein Vermögen auf 200 Millionen Dollar. Freilich hat sich Springsteen sein Geld redlich ersungen. Wrecking Ball schoss umgehend an die Spitze der amerikanischen Charts; die begleitenden Welttournee war ein Mega-Event mit 3,5 Millionen Karten. US-Präsident Barack Obama setzte Springsteens Musik gar im Wahlkampf ein.


„Die Szene ist voll von kommerziellem Schwachsinn“

Andere musikalische Produkte blieben ein Geheimtipp, „Ben Bernanke please send me some green“ zum Beispiel. „Green“ meint dabei Geld, den grünen Dollar. In dem witzigen Musikvideo der A-Cappella-Truppe Vocal Chords verwandelt sich Amerika in „JPMorganstan“, und die Sänger machen Anstalten, sich von Katzenfutter zu ernähren.

Der Buchmarkt wurde mit Werken zur Finanzkrise regelrecht überschwemmt. Titel wie The Big Short, Die große Panik (Originaltitel: In Fed We Trust), Die Unfehlbaren (Too Big to Fail), Verwerfungen (Fault Lines) verkauften sich weltweit millionenfach. Auch Deadbank Walking (A Collosal Failure of Common Sense), ein Bericht über die internen Vorgänge bei Lehman, wurde ein internationaler Bestseller und verhalf seinem Autor, Lawrence McDonald, zu einer unerwarteten Zweitkarriere: Der Lehman-Banker, der wenige Monate vor dem Crash entlassen wurde, hat heute eine eigene Firma in Manhattan, die Investment-Newsletter vertreibt. McDonald selbst ist ein gefragter Redner und schreibt an seinem zweiten Buch. „Ich habe mein Leben neu erfunden“, sagt er, „das war eine großartige persönliche Erfahrung.“

So sieht das auch der Maler Geoffrey Raymond. Er wohnt inzwischen in  Troy, einer Kleinstadt 250 Kilometer nördlich von New York, fährt aber immer noch an die Wall Street, um neue Porträts von Passanten kommentieren zu lassen. Zwischen 50 000 und 225 000 Dollar verlangt er heute für seine Acryl-Konterfeis, deren Stil er als „Jackson Pollock/Chuck Close-Fusion“ beschreibt. Allerdings verkauft er nur zwei bis drei pro Jahr. Einen Agenten hat er nicht. „Die Welt ist meine Galerie“, sagt er philosophisch. Wenn er nur gewollt hätte, so glaubt er, hätte er den Medienrummel nach dem Fall von Lehman nutzen können, um noch ganz anders rauszukommen, ein richtiger Star zu werden. „Ich hatte darauf keine Lust. Die Kunstszene ist voll von kommerziellem Schwachsinn. Ich bin auch so erfolgreich.“

Das Jubiläum der Lehman-Pleite feiert er mit einer Sonderserie, vier Drucke im Paket: Porträts von Fuld, Bear-Stears-Chef James Cayne, Goldman-Sachs-CEO Lord Blankfein sowie dem ersten Mann von JP Morgan, Jamie Dimon. Nummeriert und signiert für 699 Dollar, zu bestellen via Internet. „Ein echtes Schnäppchen“, findet der Maler. Ruhm, so weiß er, ist vergänglich. Ob sich zum zehnjährigen Jubiläum noch jemand an seine Porträts erinnert?

Im letzten Teil der Serie über die Lehman-Pleite und deren Folgen erleben Sie die letzten Stunden der Investmentbank anhand der Meldungen der Nachrichtenagenturen mit.

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