Das Interview mit Anne Mathieu, seit Juli 2020 CEO von Keolis Deutschland, wurde im Oktober 2020 geführt und erstmals bei der WirtschaftsWoche veröffentlicht. Das Nahverkehrsunternehmen Keolis fährt unter dem Namen Eurobahn etwa in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
WirtschaftsWoche: Frau Mathieu, Sie sind Chefin des Nahverkehrsunternehmens Keolis, eine Tochter der französischen Staatsbahn SNCF. Keolis betreibt die Eurobahn mit Zugstrecken in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Wie stark hat die Coronakrise Keolis getroffen?
Anne Mathieu: Zu Anfang des Lockdowns haben wir unsere Leistungen auf 65 Prozent reduziert. Inzwischen fahren wir wieder den normalen Fahrplan. Die Fahrgastzahlen haben sich aktuell auf rund 80 Prozent wieder stabilisiert. Wir haben für den Zeitraum von März bis September coronabedingte Kosten in Höhe von rund drei Millionen Euro beim Land NRW angemeldet. Wir hoffen, dass wir diese gemäß des Rettungsschirms erhalten. Hierzu hat das Verkehrsministerium NRW eine entsprechende Richtlinie veröffentlicht.
Einige Nahverkehrsunternehmen klagen über die schwierige Lage im Nahverkehr in Deutschland. Auch Keolis schreibt Verluste. Aber Bund und Länder erstatten ja einen Großteil des durch Corona entstandenen Schadens. Wie erklären Sie sich die Misere vieler Unternehmen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV)?
Tatsächlich ist ein Großteil der Schäden von dem Rettungsschirm gedeckt. Bestimmte Mehrkosten wie die Extra-Reinigung der Züge werden aber vielleicht nicht übernommen. Die Pandemie hat aber keinen unmittelbaren Einfluss auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten innerhalb der Branche.
Warum?
Der Markt funktioniert sehr langfristig. Die Länder oder Verkehrsverbünde schreiben Zuglinien im Nahverkehr aus. Unternehmen bewerben sich, aber der eigentliche Betriebsstart liegt dann noch vier bis fünf Jahre in der Zukunft. Die Laufzeit der Verkehrsverträge beträgt bis zu 15 Jahre. Wir müssen also Annahmen für 20 Jahre treffen. Das ist schwierig, denken wir beispielsweise an die Infrastruktur, deren aktuelle Auslastung nicht in dieser Art absehbar war. In NRW haben wir Knotenpunkte mit Fernverkehr, Regional- und Güterverkehr. Die Schiene ist somit arg ausgelastet.

Die Besteller des Nahverkehrs tragen die Mehrkosten, die etwa durch Inflation oder neue Tarifabschlüsse entstehen. Reichen diese indexierten Zahlungen nicht aus, um mit der Unsicherheit umzugehen?
Das hilft zum Teil. Aber bestimmte Ausgaben, die bei uns einschlagen, konnten wir nicht vorhersehen. Bis vor wenigen Jahren war es gang und gäbe, dass das Bordpersonal zum neuen Betreiber wechselt. Somit war stets der Personalbedarf gedeckt. Dies hat sich geändert. Wie die Ereignisse seit 2018 gravierend zeigen, sind alle Eisenbahnverkehrsunternehmen vom Fachkräftemangel betroffen. Es entstehen dadurch immense Rekrutierungskosten. Weiterhin ist die Zahl der Baustellen auf dem Schienennetz stark angestiegen. Es ist ja zu begrüßen, wenn die Infrastruktur ausgebaut wird. Aber wir müssen dann für den Busersatzverkehr aufkommen. Wir müssen auch Pönale zahlen, wenn unsere Züge zu spät kommen, etwa weil Weichen kaputt sind oder Personenschaden zu Streckensperrungen führen. All das lässt die Kosten explodieren.
Muss ein Unternehmen solche Vorfälle nicht einpreisen?
Das tun wir. Aber die Wucht der Veränderungen war so nicht absehbar. Der Zugverkehr hat enorm zugenommen. Das Netz ist überlastet. Wir stören uns gegenseitig. Das führt zu Verspätungen, ohne dass wir daran schuld sind. Hinzu kommen unerwartete Personalkosten.
Was meinen Sie?
Wir kämpfen derzeit mit den Auswirkungen der vergangenen Tarifabschlüsse. Unsere Mitarbeiter im Zug haben die Wahl zwischen mehr Geld, mehr Urlaub oder einer reduzierten Wochenarbeitszeit. Viele haben sich für mehr Urlaub entschieden.
Das ist doch schön für Ihre Mitarbeiter.
Ich begrüße das System, dass unsere Lokführer und Zugbegleiter die Option haben, etwa zwischen Arbeit und Familie einen besseren Ausgleich zu finden. Die reduzierte Wochenarbeitszeit hat kaum einer in Anspruch genommen. 50 Prozent haben sich für mehr Geld entschieden, 50 Prozent für mehr Urlaub. Bald treffen uns die Folgen des letzten Tarifabschlusses, den die Gewerkschaften erstreikt haben. Lokführer können ab Anfang 2021 bis zu 42 Tage Urlaub nehmen. Das durchkreuzt nun unsere Schichtplanung. Wir müssen erneut mehr Lokführer einstellen beziehungsweise ausbilden und qualifizieren, um einen stabilen Service leisten zu können.
Und die finden Sie nicht?
Doch, aber der Aufwand ist extrem hoch. Der Beruf des Lokführers ist sehr anspruchsvoll. Lokführer müssen in der Lage sein, herausfordernde Situationen in Ruhe zu bewältigen. Der Test ist daher aufwendig, da wir psychologische und fachliche Fähigkeiten testen müssen. Wir brauchen richtig gute Leute. Im Schnitt kostet uns die Rekrutierung von Quereinsteigern zum Lokführer 60.000 bis 65.000 Euro pro Person. Das Wahlmodell für unsere Mitarbeiter zwingt uns dazu, zwei bis drei Mal mehr Lokführer einzustellen als geplant. Wir suchen etwa 20 bis 30 neue Kollegen pro Jahr, also etwa fünf bis acht Prozent der Lokführer-Belegschaft.
Wie sehr begeistert der Beruf Frauen?
Immer mehr. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir sehr viele Frauen rekrutieren. Im Vergleich zu anderen Unternehmen haben wir eine überdurchschnittliche Quote. Das ist eine gute Entwicklung.
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