Die SOS Kinderdörfer kämpfen in Lateinamerika mit den Folgen wachsender sozialer Unterschiede – und das in zweifacher Hinsicht: Zum einen sollen sich die Organisationen dort verstärkt selbst finanzieren, da die Länder nicht mehr als arm gelten. Allerdings trifft das nur auf den Durchschnitt der Bevölkerung zu, denn zugleich nehmen vielerorts extreme Armut und vor allem organisierte Kriminalität derart zu, dass – zum zweiten – einige der meist in sozial schwachen Stadtgebieten liegenden Kinderdörfer direkt bedroht sind. In Argentinien muss daher eines der vier Kinderdörfer aus einem Brennpunkt des Drogen-, Waffen- und Menschenhandels in ein gemäßigteres Viertel umgesiedelt werden. „Wir können die Sicherheit der Kinder dort auf Dauer nicht mehr garantieren“, sagt Alejandra Perinetti, Direktorin der Aldeas Infantiles SOS (SOS Kinderdörfer) in Argentinien, der WirtschaftsWoche.
Die Situation der SOS-Kinderdörfer wirft ein Schlaglicht auf die Schwachpunkte des Aufstiegs von Schwellenländern wie Brasilien, Argentinien, Chile oder Peru. Sicher: Sie sind nach über einem Jahrzehnt rapiden Wirtschaftswachstums zumindest gemessen am Pro-Kopf-Einkommen reich genug, um ihren armen Bevölkerungsschichten selbst zu helfen. „Wir müssen uns künftig hauptsächlich durch lokale Spenden zu finanzieren“, sagt Perinetti. „Unsere internationalen Fonds sollen in die Entwicklungsländer Afrikas und Asiens fließen, die anders als die lateinamerikanischen kein großes Spendenpotential besitzen.“ Das argentinische Budget von 35 Millionen Peso (3,26 Millionen Euro) für 2014 wird noch zur Hälfte mit Geldern aus dem Topf der globalen Organisation gefüllt. „Ziel ist, 80 Prozent vor Ort hereinzuholen.“
„Das ist eine schwere Aufgabe“, sagt Perinetti, „denn wir haben hier erst vor fünf Jahren mit dem Fundraising begonnen. Der Argentinier gibt nur Geld für das, was er gut kennt. Und uns kennt er immer noch als Organisation, die mit Geld aus Europa unterhalten wird. Argentinien ist zusammen mit Chile zwar das spendenfreudigste Land Lateinamerikas, aber uns steht harte Kampagnenarbeit bevor, das Potenzial auch zu heben.“
Kerngeschäft Schutz der Kindheit
Die-SOS-Kinderdörfer beherbergen 80.000 Kinder in 545 SOS-Dörfern und helfen 450.000 Menschen durch Stützung der Familien. Finanziert wird das unter anderem durch rund eine Million deutsche Spender pro Jahr.
Der Libanon steht für Länder, deren SOS-Vereine sich künftig durch Spenden aus der eigenen Region finanzieren sollen. Das Land hat vier SOS-Dörfer und bald ein weiteres für 52 elternlose syrische Flüchtlingskinder.
Das SOS-Kinderdorf in Ksarnaba in der Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze wurde im April 2006 eröffnet. Kurz darauf drohte die Räumung wegen israelischer Angriffe gegen Hisbollah-Milizen. Heute leben dort 65 Kinder.
Daneben läuft derzeit in Argentinien auch ein regelrechtes Notfallprojekt – ein Projekt, in dem sich wie unter einem Brennglas die soziale Problematik des Latino-Wirtschaftswunders der vergangenen Jahre bündelt. Das Viertel Argüello-Lourdes im Nordosten der argentinischen Provinzhauptstadt Cordoba lag vor zehn Jahren noch am Stadtrand. „Als wir unser Kinderdorf dort Ende der 90er Jahre bauten“, sagt Perinetti, „wollten wir einen ruhigen Standort, aber mit Schulen und Krankenhaus in der Nähe.“ In den vergangenen zehn Jahren sei das Kinderdorf jedoch regelrecht eingemeindet worden – allerdings informell: Es ist heute umgeben von Elendsvierteln, „villas miserias“, wie sie in Argentinien heißen, mit Bretterhütten und Gassen, die sich bei Regen in Morast verwandeln.
„Doch die Armut ist nicht unser Problem“, sagt Perinetti, „wir sind ja dazu da, ihre Folgen zu lindern und Kindern in Not die Werkzeuge für eine autonome Lebensgestaltung mitzugeben. Die absurde Situation ist, dass die Not in Argüello-Lourdes so groß ist, dass selbst wir wegziehen müssen: Das Viertel hat sich in ein Zentrum des Drogen- und Waffenhandels verwandelt, hier wimmelt es von Bordells, in denen die von Banden verschleppten Mädchen landen. Normalerweise können unsere Kinder mit zehn, zwölf Jahren allein in die Schule oder zum Arzt gehen. Hier werden sie beraubt, und wenn sie ihre Schuhe nicht hergeben, werden sie geschlagen. Unser Kinderdorf hat zwei Eingänge, bewaffnete Banden laufen hier durch. Kinder können das Gelände nur noch mit Betreuern verlassen, und auch die werden bedroht. Noch können wir mit viel Sicherheitspersonal versuchen, die Unversehrtheit der 47 Kinder zu gewährleisten, aber die Grenze ist erreicht.“
Eine harte Aufgabe
Im vergangenen Jahr häuften sich Drohungen. In einer Hauruck-Aktion startete Perinetti im November die Organisation des Umzugs. Die Universität Cordoba wurde mit der Suche nach Standorten beauftragt. Das Viertel, in dem die neuen Wohnungen liegen sollen, steht nun fest. Es wird kein traditionelles Kinderdorf mehr sein, sondern das „Dorf“ wird aus sechs Wohneinheiten bestehen, die nicht mehr als zwei, drei Straßen voneinander entfernt liegen. „Vier der Wohnungen – jeweils rund 220 Quadratmeter, drei Toiletten – haben wir schon fest, zwei suchen wir noch“, sagt Perinetti. Etwa 120.000 Dollar (87.500 Euro) kostet jede der Wohnungen in einem sichereren Viertel.
Das Geld soll der Verkauf des Grundstücks in Argüello-Lourdes bringen – eine harte Aufgabe angesichts des heutigen Umfelds dort. Überbrückt wird die Finanzierung durch einen Kredit einer deutschen SOS-Kinderdorf-Gesellschaft. „Wir können mit dem Umzug nicht warten, bis wir den Grund verkauft haben“, sagt Perinetti. Bis Mai sollen die Kaufverträge der neuen Wohnungen stehen, „allerspätestens Mitte des Jahres müssen wir umziehen“. Bis dahin müssen auch noch weitere Betreuer eingestellt werden: „Wenn unsere Familien nicht in einem zusammenhängenden Dorf leben, sondern über mehrere Wohnungen eines Stadtviertels verteilt sind, brauchen wir mehr Personal. Jede Familie hat dann nicht nur eine Mutter, sondern auch eine Tante.“
SOS-Libanon
Eigentlich dürfte es das Problem in Cordoba gar nicht geben: Argentiniens Wirtschaft wuchs im Jahrzehnt nach dem Staatsbankrott von Ende 2001 im Schnitt um sieben Prozent jährlich; das Land hat heute mit einem Gini-Index von offiziell gut 0,4 theoretisch eine ausgeglichenere Einkommensverteilung als etwa die USA. „Doch das spiegelt sich in der Realität der Viertel rund um unsere Kinderdörfer nicht wieder“, sagt Perinetti. „Unsere Dörfer liegen alle in sozial schwachen Gebieten und die Armut dort hat in den vergangenen zehn Jahren zu- und nicht abgenommen. Deshalb haben wir unser Engagement rund um zwei unserer vier argentinischen Kinderdörfer auch erweitert und versuchen auch die Familien, die in der Umgebung wohnen, zu stärken. Außerdem sind viele Kinder in unseren Dörfern heute keine Waisen mehr, sondern stammen aus marginalisierten Familien – und die begleiten wir auch über die Aufnahme der Kinder bei uns hinaus.“
Grund für die Diskrepanz ist, dass die Argentinische Regierung Anfang 2007 das Statistikamt Indec politisch auf Kurs brachte: Seitdem übermittelt die von Kadern der so genannten progressiven Regierung Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchners und ihres verstorbenen Ehemanns und Amtsvorgängers Néstor besetzte Behörde Inflationszahlen, die weit unter den von privaten Instituten gemessen werden. Für 2013 kommen Indec und die Regierung auf rund zehn Prozent, realistisch sind etwa 28 Prozent – der höchste Wert seit 2001.
Das verfälscht die Armutsstatistik: Die Regierung kommt auf eine Armutsrate von 4,7 Prozent der Bevölkerung, die Parlamentsopposition geht von etwa 30 Prozent aus, Tendenz steigend. Und da auch die per Dollarflucht an der Steuer vorbei geschleusten Einkommen der politischen und wirtschaftlichen Elite nicht erfasst sind, ist auch die im offiziellen Gini-Index gemessene Einkommensgleichheit unrealistisch – wie unrealistisch, das belegt das Drama des SOS Kinderdorfs in Cordoba. Stellvertretend für Argentinien und den ganzen Kontinent.