Irgendwann im Juli vergangenen Jahres lag das Baby morgens vor dem Haupttor und schrie. Es war ein paar Stunden alt und blutig von der verheimlichten Geburt. Die Mutter hatte es abgelegt in einer Decke und in der Gewissheit, dass es im konservativen Libanon nur wenige gute Plätze gibt für ein uneheliches Kind – und dass das SOS-Kinderdorf in Ksarnaba, 60 Kilometer östlich der Landeshauptstadt Beirut, einer davon ist.
Julia, neun Monate später, mit dunklen Locken und rotem Strampler, ist der jüngste der 65 Schützlinge von Salman Dirani, dem Direktor des SOS-Kinderdorfs Ksarnaba. Für die muslimischen und christlichen Kinder ist der Bär von Mann mit der schwarzen Lederjacke, verschwitztem Dreitagebart, Doppelkinn und rauem Lachen den ganzen Tag auf den Beinen. Der 54-Jährige muss auch die lokalen Chefs der Hisbollah bei Laune halten. Die schiitische „Partei Gottes“ hat in Ksarnaba das Sagen und betreibt eine Schule, die den Islam so konservativ auslegt, dass Dirani seine SOS-Kinder lieber bei einer weiter entfernten säkularen Schule anmeldet.
Kerngeschäft Schutz der Kindheit
Die-SOS-Kinderdörfer beherbergen 80.000 Kinder in 545 SOS-Dörfern und helfen 450.000 Menschen durch Stützung der Familien. Finanziert wird das unter anderem durch rund eine Million deutsche Spender pro Jahr.
Der Libanon steht für Länder, deren SOS-Vereine sich künftig durch Spenden aus der eigenen Region finanzieren sollen. Das Land hat vier SOS-Dörfer und bald ein weiteres für 52 elternlose syrische Flüchtlingskinder.
Das SOS-Kinderdorf in Ksarnaba in der Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze wurde im April 2006 eröffnet. Kurz darauf drohte die Räumung wegen israelischer Angriffe gegen Hisbollah-Milizen. Heute leben dort 65 Kinder.
„Alle nennen mich hier Ammo“, zu Deutsch: Onkel, scherzt Dirani, „sogar meine Frau.“ Aber hinter dem Grinsen sieht der Libanese müde aus. Seine Frau Cecilia, die im SOS-Dorf den Kindergarten leitet, berichtet, dass Salman – sein Name heißt auf Deutsch „der Fehlerlose“ – nachts schweißgebadet im Bett sitze und aus dem Fenster starre.
Dirani hat Angst – vor der möglichen Schließung seines SOS-Kinderdorfes, das erst vor acht Jahren gegründet wurde. Ihn quält die Vorstellung, Julia und all die anderen Kinder mit zerrissenen Lebensläufen müssten ihr neues Zuhause in der Bekaa-Ebene, für das er die Verantwortung trägt, wieder verlassen. Die Gefahr für den freundlichen Schutzort mit Rasen, blühenden Bäumen und zehn hellgrauen Bungalows, in denen die fest angestellten SOS-Müttern mit je sechs oder sieben Kindern leben, geht nicht vom syrischen Bürgerkrieg direkt hinter der nahen Grenze aus. Sondern von den SOS-Finanzen.
Angst vor der Schließung
Bis jetzt lebt das SOS-Dorf Ksarnaba weitgehend von Spenden aus Europa. Aber die werden bald ausbleiben, weiß Dirani. Wie es weitergeht, ob SOS Libanon das eigene Spendenaufkommen vervierfachen kann, wie es die SOS-Zentrale in Innsbruck verlangt, kann Dirani nicht sagen: „Die Lage ist schlecht, das Land nicht stabil.“
Ähnliche Sorgen haben 35 der 133 SOS-Vereine in aller Welt und damit ein erheblicher Teil der 37.000 SOS-Mitarbeiter. Neu ist für Millionen von Spendern und SOS-Paten, die sich mit der Marke SOS verbunden fühlen: SOS-Kinderdörfer, die größte internationale Kinderhilfsorganisation und mit Abstand größte Spenden-Sammelstelle in Deutschland, verordnet sich einen fundamentalen Reform- und Konsolidierungskurs, um eine Krise abzuwenden. Ein Dutzend Dörfer vor allem in Lateinamerika wurde bereits geschlossen, Mitarbeiter mussten gehen oder den Einsatzort wechseln. Das gab’s – abgesehen von Einzelfällen – noch nie in der 65-jährigen Geschichte der Organisation.
SOS-Kinderdorf funkt SOS. Auch wenn die Verantwortlichen das nicht so sagen, streng wirtschaftlich betrachtet, würde die globale Hilfsorganisation ohne Kurswechsel zum Sanierungsfall. Die Strukturen des milliardenschweren Wohltätigkeitskonzerns waren nicht mehr zukunftsfähig und stecken nun in einem schmerzhaften Veränderungsprozess. Es muss intern umverteilt und gespart, das Kerngeschäft neu definiert werden. Sparten und Standorte, die am europäischen Tropf hängen, sollen sich wirtschaftlich selber tragen oder weichen, neue Märkte und Geschäftsfelder erschlossen werden. Sechseinhalb Jahrzehnte nach der Gründung im österreichischen Imst muss der Global Player der guten Werke sich selbst retten.