Diesmal musste Frank Bsirske ziemlich lange warten. Gleich 37 Delegierte wollten auf dem Verdi-Bundeskongress am Rednerpult ihre Statements und Sorgen loswerden, niemand scherte sich auch nur ansatzweise um die vereinbarte Redezeit von drei Minuten und dann gab es auch noch eine schier endlose Debatte über die Frage, ob man den personell opulent ausgestattenen Bundesvorstand um einen Sitz verkleinern solle.
Die mit Spannung erwartete Vorstandswahl fand daher erst am späten Nachmittag statt. Das Ergebnis fiel hingegen wie erwartet aus: Die 1000 Delegierten in Halle 3 der Leipziger Messe bestätigten den seit 2001 amtierenden Vorsitzenden erneut im Amt. Die 88,5 Prozent Ja-Stimmen für den gelernten Politologen waren allerdings ein deutlich schlechteres Ergebnis als bei seiner Wahl vor vier Jahren. Damals hatte Bsirske 94,7 Prozent der Stimmen erhalten.
Verdis Forderungen an die Post im Detail
Das von der Gewerkschaft vorgelegte Gesamtpaket umfasst eine Rückführung der von der Deutschen Post AG für die Zustellung gegründeten 49 Regionalgesellschaften (DHL Delivery GmbHs) zum 1. November 2015 in den Haustarifvertrag der Deutschen Post AG.
Verdi verzichtet auf eine lineare Erhöhung des Entgeltes 2015. Stattdessen fordert die Gewerkschaft für Tarifkräfte zum 1. August 2015 eine Einmalzahlung von 500 Euro, für Auszubildende und Studierende an Berufsakademien 250 Euro. Zum 1. August 2016 werden die Entgelte und Ausbildungsvergütungen um linear 2,7 Prozent angehoben.
Der Entgelttarifvertrag hat eine Laufzeit von 27 Monaten bis zum 31. August 2017. Die so genannte Postzulage für die Beamtinnen und Beamten wird ebenfalls bis zum 31. August 2017 verlängert. Für alle ab dem 1. November 2015 neu eingestellten Tarifkräfte greift eine veränderte Entgelttabelle. Bislang erfolgt für jede Tätigkeit nach 24 Monaten ein Zeitaufzug in die nächsthöhere Erfahrungsstufe. Dieser Zeitaufzug wird für alle Entgeltgruppen von 24 auf 36 Monate verlängert. Dadurch verbleiben nach dem 1. November 2015 eingestellte Beschäftigte statt wie bislang jeweils zwei künftig drei Jahre in derselben Gruppenstufe. Die gekündigten Bestimmungen zur Arbeitszeit werden rückwirkend zum 1. April 2015 wieder in Kraft gesetzt.
Verdi fordert eine Verlängerung des Schutzes vor betriebsbedingten Kündigungen und Änderungskündigungen bis 31. Dezember 2020.
Verdi fordert den Ausschluss der Fremdvergabe in der Zustellung unter Einschluss der Rückführung der bislang vertraglich vereinbarten 990 Paketzustellbezirke bis 31. Dezember 2020. Ebenso wird die Regelung zum Schutz vor Fremdvergabe im Fahrdienst bis 31. Dezember 2020 verlängert.
Verdi hat der Deutschen Post eine Erklärungsfrist bis zum Donnerstag, 4. Juni, um 16 Uhr eingeräumt.
Wo er die zweitgrößte deutsche Gewerkschaft in den kommenden Jahren (tarif)politisch hinführen will, hatte Bsirske, der zu den wenigen guten Rednern unter deutschen Gewerkschaftsbossen zählt, bereits gestern in seiner Bewerbungsansprache unmissverständlich klar gemacht: „Wir sind fest entschlossen, noch stärker zu werden!“ In der Praxis sieht das so aus: Angesichts der Konkurrenz durch Spartengewerkschaften und einer im Vergleich zu früheren Jahren ordentlich gefüllten Streikkasse setzt die Gewerkschaft voll auf den Arbeitskampf. Noch nie seit der Fusion von fünf Einzelgewerkschaften zu Verdi im Jahr 2001 hat Verdi so viel und so ausgiebig gestreikt wie 2015.
Allein im ersten Halbjahr zählten die Statistiker 1,5 Millionen Streiktage. 80 Prozent aller Streiks in Deutschland entfallen mittlerweile auf den Dienstleistungssektor. Auf jeder Bundesvorstandssitzung würden derzeit 10 bis 20 neue Streikmaßnahmen geschlossen, berichtet Bsirske und wie es scheint, betrachtet er dies als gewerkschaftlichen Leistungsnachweis. Insgesamt hat Verdi im laufenden Jahr bereits über 100 Millionen Euro für Streiks bereitgestellt. In den ersten Verdi-Jahren waren es nur fünf Millionen Euro jährlich gewesen. Zum Schaden der Gewerkschaft ist das offenkundig nicht, allein im Sozial- und Erziehungsdienst hat es in den vergangenen Monaten im Verlauf der Kita-Streikwelle 27.000 Neueintritte gegeben. Insgesamt haben von Januar bis August rund 99.000 Menschen einen Verdi-Mitgliedsantrag unterschrieben. Nachdem die Mitgliederzahl 2014 einmal mehr absackte, könnte es im laufenden Jahr zum zweiten Mal in der Verdi-Geschichte (nach 2013) ein Plus geben.
Neue Kita-Verhandlung kommende Woche
Die erste Herausforderung von Bsirskes fünfter Amtszeit steht bereits fest. Am 28. und 29. September treffen sich Gewerkschaft und kommunale Arbeitgeber, um zum xten Mal über die künftigen Löhne im Sozial- und Erziehungsdienst zu verhandeln. Nachdem die Verdi-Basis (gegen Bsirskes Empfehlung) das Schlichtungsergebnis abgelehnt hat, fordert die Gewerkschaft von den kommunalen Arbeitgebern ein neues Angebot, das über das Schlichtungsergebnis hinausgeht.
Fragen und Antworten zum Kita-Streik
Gewerkschaften und kommunale Arbeitgeber verhandeln nicht über eine prozentuale Tariferhöhung. Es geht darum, wie die Arbeit von Erzieherinnen und Sozialarbeitern bewertet und bezahlt wird. Die Gewerkschaften wollen durchsetzen, dass die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst mehrere Tarifstufen höher eingruppiert werden. Nach ihren Angaben hätte dies im Durchschnitt eine Gehaltserhöhung um zehn Prozent zur Folge.
Die Verhandlungen laufen nur für die bei den Kommunen beschäftigten Erzieher. Das ist laut Verdi etwa ein Drittel - zwei Drittel arbeiten für freie Träger wie Kirchen oder die Arbeiterwohlfahrt. Bei den freien Trägern orientieren sich die Arbeitgeber der Gewerkschaft zufolge am Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, allerdings häufig mit Eingruppierungen unterhalb des Niveaus bei den Kommunen.
Mit dem Ausbau der frühkindlichen Bildung seien die Anforderungen an die Erzieherinnen stark gestiegen, betont Verdi. Eine entsprechende Bezahlung sei aber ausgeblieben. Auch die Bertelsmann Stiftung streicht die gewachsenen Ansprüche an Erzieherinnen heraus. „Das Anforderungsprofil entspricht dem von Grundschullehrern“, sagt Anette Stein, die bei der Stiftung Direktorin des Programms Bildungsinvestitionen ist. Die Bezahlung bleibe aber „deutlich“ hinter der von Grundschullehrern zurück.
Die Einstufung im Tarifsystem erfolgt nach Tätigkeit und Berufserfahrung. Eine Kinderpflegerin erhält als Anfangsgehalt 2043 Euro brutto im Monat, die Leiterin einer Kita kann, bei besonders großen Einrichtungen, bis zu 4749 Euro im Monat verdienen. Eine Erzieherin mit achtjähriger Tätigkeit bekommt nach Angaben von Verdi derzeit 2946 Euro im Monat, nach den Vorstellungen der Gewerkschaft soll sie künftig 3387 Euro erhalten.
Die meisten Erzieherinnen seien bereits jetzt in die höchste Erfahrungsstufe eingruppiert und hätten damit ein Monatsgehalt von 3289 Euro. Die kommunalen Arbeitgeber vergleichen die Bezahlung der Erzieherinnen mit der von Handwerkern im öffentlichen Dienst oder Brandmeistern bei der Feuerwehr. Das Einkommen des Ausbildungsberufs Erzieherin liege oberhalb dieser Gruppen.
Viele Kita-Beschäftigte haben in einer aktuellen Befragung eine schlechte Bezahlung und fehlende Wertschätzung beklagt. Das Vorurteil „wir spielen, basteln und betreuen die Kinder nur“ sei noch weit verbreitet. In einer beim Kitaleiter-Kongress am Mittwoch in Dortmund vorgestellten repräsentativen Umfrage gaben fast 88 Prozent der Befragten an, ihre Bezahlung entspreche nicht den gestiegenen Anforderungen an ihre Arbeit.
Ansonsten werde es laut Bsirske eine „massive Eskalation des Konfliktes werden mit hohen Belastungen für alle Beteiligten, für Eltern, Arbeitgeber und die Streikenden“. Allerdings ist Bsirske erfahren genug, um zu wissen, dass es für die renitente Haltung seiner Gewerkschaft im Kita-Streit außerhalb von Verdi kein Verständnis mehr gibt. Vielleicht ging der 63-Jährige auch deshalb heute erneut ans Rednerpult, um seine Leute vor „Tarifromantik“ zu warnen und die Botschaft loszuwerden: „In der Regel muss man Tarifkompromisse schließen“.
Doch wie könnte der aussehen? Möglich wäre etwa, die im Schlichterspruch festgelegte lange Laufzeit von fünf Jahren etwas zu verkürzen und Umschichtungen im Gehaltsgefüge zu vereinbaren, die den Kuchen nicht vergrößern, sondern nur anders verteilen. So könnte der Lohnzuwachs für Leitungspersonal etwas geringer ausfallen, dafür die einfachen Erzieherinnen mehr bekommen. Innergewerkschaftlich ließe sich das ohne größere Verwerfungen durchsetzen, da die Kita-Leiter eine zahlenmäßig vergleichsweise kleine Gruppe sind (mit entsprechend wenig Protestmacht) und monetäre Nivellierungstendenzen bei Verdi traditionell stark ausgeprägt sind.
Am Rande des Gewerkschaftstages äußerten Verdianer allerdings die Befürchtung, die kommunalen Arbeitgeber könnten die Verhandlungen verschleppen, um den Kitastreit in die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes zu tragen; dort läuft der Tarifvertrag Ende Februar aus. Deutlich höhere Löhne für Erziehungs- und Sozialberufe könnten dann womöglich in einem Gesamtpaket die Zuwächse bei anderen Berufsgruppen begrenzen – eine angesichts der kommunalen Finanzprobleme nicht völlig abwegige Strategie. Für streikgeplagte berufstätige Eltern wäre das wahrlich keine gute Nachricht.