Es war die vielleicht letzte Chance des Clans auf Versöhnung. Vor rund zwei Jahren, als die Familienfehde im Discountimperium von Aldi Nord bereits schwelte, versuchten die Eigentümer des Schwesterkonzerns Aldi Süd den Erbstreit im Norden zu entschärfen. Peter Heister, Schwiegersohn des verstorbenen Aldi-Süd-Patrons Karl Albrecht, wollte nach Informationen der WirtschaftsWoche zwischen den Parteien vermitteln. Doch die Friedensmission scheiterte. Zu verhärtet waren offenbar schon damals die Fronten, zu tief saß das Misstrauen zwischen den Familienstämmen bei Aldi Nord.
Warum Aldi billig ist
Es ist eine Gretchenfrage: Wie viele Artikel biete ich meinen Kunden an? 1946 ging es um nichts mehr als ums Sattwerden. Die Aldi-Brüder schauten auf ihren Tages- und Wocheneinkauf. Erst im Laufe der Jahre kamen Non-Food-Artikel hinzu – anfangs waren sie verpönt.
Mit der Zeit pendelte man sich bei 400 Artikeln ein. Inzwischen – in Zeiten der feiner werdenden Nuancen – ist die Zahl auf über 900 Basisartikel gewachsen. Der Stellplatz in den Filialen hat natürliche Grenzen. Zudem ist Produktpflege ein aufwändiges Geschäft.
Von Beginn an galt bei den Albrechts das Gebot der Warengleichheit: In allen Filialen sollten die Kunden dieselben Produkte finden. Schnell ging es soweit, dass sie es sogar an derselben Stelle fanden.
Eine echte Revolution war die Einführung von Kühlware in den Siebzigerjahren. Sowohl bei Aldi Nord als auch bei Aldi Süd gingen Grundsatz-Diskussionen voraus. Entgegen der Behauptungen gab es darüber aber keinen brüderlichen Zwist. Allerdings musste der vorpreschende Karl Überzeugungsarbeit leisten beim abwägenden Theo. Doch die Kühltruhe kam, erst im Kleinformat, dann immer mehr.
Seit Jahren macht andere Discounter wie Netto (vorher Plus) gute Geschäfte mit Markenartikeln. Aldi hat stets eine Aversion gegen sie gehabt - gab inzwischen aber nach. Auf der anderen Seite taten sich die Hersteller von Markenartikeln anfangs auch sehr schwer, bei einer Billigkette zu listen, als die Aldi galt.
Vereinfacht gesagt besteht Aldis größtes Problem darin, die erforderlichen Liefermengen von mehreren Anbietern zu beziehen. Bei vergleichenden Qualitätsstandards heißt es immer wieder: Bedarfsdeckung versus Preis. Gerade zu Ostern und Weihnachten ist es eine Sisyphusarbeit in Planung und Organisation, für ausreichend Waren zu sorgen und sie auf die Filialen zu verteilen.
Die Preisfindung in diesem „Wettkampf“ ist das eigentliche Erfolgsrezept Aldis. Als Marktführer, ausgestattet mit dem Hebel der Mengenmacht, hat man hier natürlich Vorteile. Dabei bündeln Aldi Nord und Aldi Süd ihre Einkaufsstrategie in vielen Sortimenten. Auf der anderen Seite hat Aldi auch kein Interesse, die Lieferanten so sehr zu schröpfen, dass sie in den Ruin gehen.
Lieferanten unterliegen leicht der großen Verlockung, mit Aldi so zu verhandeln, dass die eigentlichen Kapazitätsgrenzen überschritten werden. Zwar kann man mit Aldi vermögend werden, aber das Risiko, sich zu sehr abhängig zu machen, ist groß. Denn Aldi streicht durchaus schnell einen Lieferanten. Fachleute raten dazu, maximal 50 Prozent seiner Produkte an Aldi zu verkaufen.
Die Wettbewerber sind dem Preisdiktat ausgesetzt. In den vergangenen Jahres war gut zu beobachten, was passiert, wenn Aldi die Preise für Alltagsprodukte wie Milch senkte: Die Konkurrenz zog innerhalb weniger Stunden nach. Preisvergleich und Preispolitik sind Tagesaufgaben.
Doch warum agieren die Discounter eigentlich so nah am „gerechten Preis“? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn die Durchschnittskunde ist eigentlich sehr wenig mit den Preisen vertraut. Er stellt seinen Warenkorb den Bedürfnissen und Gepflogenheiten zusammen. Die meisten gehen nicht mit offenen Augen durch die Läden. Angebote werden auch bei Aldi sehr deutlich mit andersfarbigen Schildern gekennzeichnet, damit sie überhaupt auffallen. Umso wichtiger ist also, dauerhaft der Preisführer zu sein – und dieses Image zu pflegen.
Egal wie günstig ein Produkt ist – die Qualität muss stimmen: Aldi testet wie auch die anderen Discounter ständig seine aktuellen und auch mögliche neuen Produkte. Zudem nützt das tollste Sonderangebot nichts, wenn es um 11 Uhr ausverkauft ist.
Kein Produkt hat bei Aldi eine Existenzgarantie. Jeder Lieferant ist austauschbar. Und das lässt Aldi seine Partner ganz genau wissen. Es herrscht rigorose Preiskontrolle vom Einkauf bis zum Verkauf. Der Kunde entscheidet. Nimmt er ein Produkt nicht (mehr) an, fliegt es aus dem Sortiment. Das gilt besonders für Sonderverkäufe. Schlagen sie nicht ein, bekommen sie keine zweite Chance.
Im Fachjargon heißen sie Zugartikel, die Produkte, an denen Aldi praktisch nichts verdient. Die Marge liegt nahe null, aber sie sind dennoch sehr wichtig. Denn sie locken Kunden in den Laden. Und die Kunden kaufen dann eben auch andere Produkte, wo die Margen entsprechend höher liegen. Die sogenannte Quermarge stimmt also auch bei Zugprodukten.
Regale sind das eine, Vorstelltische das andere. Bei Aldi haben sie eine sehr hohe Bedeutung. Reste gehen hier rasant weg.
Der Filialleiter hat die wesentliche Aufgabe, sein Personal geschickt einzuspannen. Aldi näht hier auf Kante, sprich: Die Personaldecke ist extrem eng. Im Krankheitsfall bricht rasch der Notstand aus, wenn nicht umgehend Ersatz zur Hand ist: verdreckte Böden, unsortierte Regale, Schlangen an den Kassen. Entsprechend sind Filialleiter entscheidende „Produktchefs“ und es gelten hohe Standards.
Heute, in Zeiten der Piep-Piep-Kassen, ist es nicht mehr so wichtig: Aber groß geworden ist Aldi auch wegen einer vermeintlich selbstverständlichen Eigenschaft der Kassiererinnen und Kassierer: Sie kannten die Preise der Produkte auswendig und konnten sie blitzschnell in die Kasse eingeben.
Die Logistik dahinter ist alles andere als einfach: Wie bekommt man all die hohen Bargeldsummen, die sich in den Kassen auftürmen, sicher zur Bank? Das ist die eine Frage, die Discounter wie Aldi lösen müssen. Die andere ist, wie man die Liquidität möglichst schnell reinvestiert. Bei einer Umschlaggeschwindigkeit der Waren von 8,5 Tagen und einem Zahlungsziel von 14 Tagen gegenüber dem Lieferanten ist die Ware nahezu zweimal verkauft, ehe sie einmal zu bezahlen ist. Und das mit zwei Prozent Skonto.
Wohin also mit dem Geld? Die erste Antwort lautet: Nicht mehr mieten, sondern kaufen – also die Immobilien, in denen sich die Filialen befinden. Zudem fließt bei Aldi viel Geld in die Familienstiftung. Dort wird es gefahrensicher angelegt. Zudem war Aldi frühzeitig darauf aus, in der Plastikindustrie zuzukaufen.
Aldi ging schon früh einen Weg, der damals alles andere als üblich war und setzte auf eigene Produkte. Die alte Kaufmannsweisheit, dass der Vertreiber nicht selbst produzieren soll, damit er nicht mit Reklamationen überschüttet wird, gilt heute längst nicht mehr. Aber damals war es etwas ziemlich neues. Es begann mit eigenem Kaffee, der in Herten produziert wurde.
Bei Aldi wird alles und ausnahmslos umgetauscht, wenn der Kunde dies wünscht. Jede eingequetschte Tomate und jede Laufmasche. Filialleiter dürfen unter keinen Umständen Einwände erheben.
Die beiden Aldi-Unternehmen brüsten sich damit, nicht zu werben. Das ist natürlich nicht wörtlich gemeint, schließlich sind die Anzeigen aus den regionalen und überregionalen Zeitungen nicht wegzudenken. Was Aldi meint ist, dass man die Kunden besonders anspricht, also über den Preis argumentiert und auf Mund-zu-Mund-Propaganda setzt.
Einmal im Jahr gibt es den bisweilen gefürchteten Vergleich zwischen Aldi Nord und Aldi Süd. Folgende Zahlen spielen darin die Hauptrolle: Hauptkostenarten bei Personal, Mieten, Energie usw. sowie Anzahl der Filialen, Umsätze und Gesamtkosten.
Bei Aldi gibt es praktisch keine innerbetrieblichen Veranstaltungen. Sozialkontakte erstrecken sich auf den gemeinsamen Einsatz für sprudelnde Umsätze. Als ein Geschäftsführer mal anlässlich der Heirat seiner Tochter Theo Albrecht nebst Gattin Chily einlud und es dort Zusammentreffen mit wichtigen Lieferanten gab, verzog Theo keine Miene. Das Arbeitsverhältnis wurde gelöst.
Auf der einen Seite Gründersohn Theo junior, auf der anderen die Erben von Theo juniors Bruder Berthold, der im November 2012 nach schwerer Krankheit starb. Als sich Bertholds Witwe, Babette Albrecht, 2013 daran machte, das Erbe ihres Mannes zu sortieren, stieß sie auf allerlei Merkwürdigkeiten im Reich von Aldi Nord und engagierte gemeinsam mit ihren fünf Kindern den Düsseldorfer Anwalt Andreas Urban von der Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek.
Ein Streit begann, der schnell das finanzielle Herz der Dynastie erreichte: die drei Familienstiftungen namens Lukas, Markus und Jakobus, in denen sämtliche Aldi-Nord-Anteile gebündelt sind und in die auch die Unternehmensgewinne fließen. Die Markus-Stiftung hält dabei mit 61 Prozent die Mehrheit der Anteile, die beiden anderen kontrollieren jeweils 19,5 Prozent.
Vor allem die Jakobus-Stiftung stand bislang im Zentrum des Konflikts. Hier hatte 2010 eine Satzungsänderung den Einfluss von Bertholds Kindern stark beschnitten. Vor dem Verwaltungsgericht Schleswig brachte Jurist Urban die Regelung Anfang des Jahres zunächst zu Fall.
Damit verfügt die Babette-Seite de facto über ein Vetorecht bei grundlegenden Entscheidungen. Denn die Stiftungen sind aufeinander angewiesen. Wichtige Entscheidungen können nur dann getroffen werden, wenn die Vertreter aller drei Stiftungen zustimmen. Das betrifft Themen wie die Expansion in neue Länder oder die Vertragsverlängerungen von Managern. Die Gesellschafter können sich so gegenseitig blockieren und das Unternehmen lähmen. Noch ist davon zwar nichts zu spüren. Doch ob das auf Dauer so bleibt, ist fraglich.
Wohl auch deshalb geht die Theo-junior-Seite rechtlich gegen das Urteil vor und jüngst medial in die Offensive. In einem Interview mit dem „Handelsblatt“ warf er seiner Schwägerin unter anderem vor, die Reputation des Unternehmens zu gefährden, weil sich Babette und ihre Kinder von der Jakobus-Stiftung 25 Millionen Euro netto pro Jahr ausschütten lassen und einen zu exponierten Lebensstil pflegten.
Übernimmt Aldi Süd?
In den nächsten Monaten muss nun das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht über die Zulässigkeit der Satzungsänderung entscheiden. Nach Informationen der WirtschaftsWoche ist bei dem Gericht aber auch ein weiteres Verfahren anhängig, das dem Konflikt eine neue Dimension verleihen könnte. „Dabei geht es um die Markus-Stiftung. Dem Vernehmen nach gehören sowohl die Familie von Theo junior wie die fünf Kinder Babettes zu den Nutznießern (Destinatären) der Stiftung. Letztere wollen nun vor Gericht die Einsicht in die Stiftungsunterlagen erzwingen. „Im Aldi-Kontext sind zwei Verfahren anhängig“, bestätigt eine Gerichtssprecherin.
Im zweiten Schritt könnte die Babette-Fraktion dann wiederum mögliche Satzungsänderungen überprüfen und im Zweifel anfechten. Die Familienfehde dreht sich damit nicht mehr nur um die Kontrolle des Jakobus-Anteils von 19,5 Prozent an Aldi Nord. Vielmehr gehe es wirtschaftlich um 50 Prozent am Unternehmen, sagt ein Insider.
Damit scheint eine Lösung des Konflikts weiter entfernt zu sein als je zuvor. Zugleich steigt die Gefahr, dass der Familienstreit auf das operative Geschäft übergreift. Und dennoch gibt es bei den Beteiligten wohl auch Planspiele, um das Gezerre zu beenden.
Vor allem Theo Albrecht junior dürfte darauf hoffen, dass die Satzungsschlappe vom Oberverwaltungsgericht wieder gekippt wird. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich, zumal anschließend neue Prozesse folgen würden.
Eine Trennung scheint dagegen der sinnvollste Weg, um einen lähmenden Gerichts- und Stellungskrieg zu verhindern.
"Wenn Du Deine rein persönlichen Motive nicht den Interessen unseres Unternehmens unterzuordnen bereit bist, müssen wir uns trennen", ließ Theo Albrecht junior seine Schwägerin bereits per Brief wissen. Die Witwe soll ihm laut „Focus“ wiederum vorgeschlagen haben, er möge seine Anteile an dem Essener Discounter an sie und ihre Kinder verkaufen.
Allein, die Kosten um die jeweilige Gegenseite aus dem Discount-Konzern heraus zu kaufen, dürften einen Milliardenbetrag verschlingen. Eine Summe, die selbst im Albrecht-Clan nicht ohne weiteres zu stemmen wäre. Wohl auch deshalb wird in der Branche eine Alternative diskutiert, die derzeit zwar weit entfernt scheint und von Beteiligten als „rein theoretische Option“ bezeichnet wird, aber die Probleme im Nord-Reich auf einen Schlag lösen könnte.
Das Schwesterunternahmen Aldi Süd könnte die Gelegenheit nutzen, um gemeinsam mit einem der Kontrahenten die Macht im Norden zu übernehmen und die Unternehmen langfristig wieder zusammen zu führen. „Ein Zusammenschluss der beiden Unternehmen unter Führung von Aldi Süd wäre eine ideale Lösung“, sagt Handelsexperte Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein. „Nicht nur die Familienstreitigkeiten im Norden könnten so beigelegt werden. Auch das operative Geschäft würde profitieren, wenn das erfolgreichere Süd-Modell auf den Norden übertragen werden würde.“ Heinemann: „Das würde sich für beide Unternehmen richtig lohnen.“