Guido Kerkhoff zeigt sich so unabhängig wie man es als Finanzvorstand von ihm erwartet. Zusammen mit ThyssenKrupp-Vorstandschef Heinrich Hiesinger hält er in den kommenden Wochen das Schicksal des Unternehmens mit einem Jahresverlust in Höhe von fünf Milliarden Euro in der Hand. Aber Kerkhoff ist dem Aufsichtsrat verpflichtet – und sich selbst. Kerkhoff ist Neuling in Essen, nicht einmal zwei Jahre bei ThyssenKrupp. Vorher war er Finanzvorstand der Telekom und damit ganz weit weg von Korruption, Milliarden-Fehlplanungen und Missmanagement im Revierkonzern.
Cromme und Beitz trugen alles mit...
In einer Sondersitzung am 20. November versuchte der ThyssenKrupp-Aufsichtsrat erneut, die Verursacher des Milliardendesasters bei den Stahlwerken in Brasilien und Alabama (USA) auszumachen.
Die Kontrolleure unter Gerhard Cromme beriefen sich auf einen internen Bericht, nach dem Antworten des gesamten früheren Vorstands auf Fragen des Aufsichtsrates „unvollständig und teilweise falsch“ gewesen seien. Damit sprach sich Cromme frei.
Seit 2007 hatte sich aber abgezeichnet, dass die Baukosten der Stahlwerke „erheblich vom Plan abweichen“, wie es in einer Aufsichtsratsvorlage heißt. Cromme und Beitz zogen dennoch nicht die Notbremse. Schuld an Fehlentwicklungen im Konzern seien, so ein früherer Manager, „immer die anderen.“
Da wirkt es prekär, dass Kerkhoff dem Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Cromme verpflichtet ist, seinem Chefaufseher, der selbst knietief drinsteckt, dennoch nichts von den gravierenden Fehlentwicklungen gewusst haben will. Cromme ist seit 1986 bei Krupp, war später Vorstandschef des Fusionskonzerns ThyssenKrupp und seit über zehn Jahren dessen Aufsichtsratschef, Vorsitzender des Investitionsausschusses.
Aus der ThyssenKrupp-Bilanz 2011/2012
2010/2011: 50,2 Milliarden Euro
2011/2012: 48,7 Milliarden Euro. Das entspricht einem Minus von drei Prozent.
2010/2011: 49 Milliarden Euro
2011/2012: 47 Milliarden Euro. Das entspricht eine Minus von vier Prozent.
2010/2011: - 1,3 Milliarden Euro
2011/2012: - 4,7 Milliarden Euro
2010/2011: 10,4 Milliarden Euro
2011/2012: 4,5 Milliarden Euro. Damit hat ThyssenKrupp sein Eigenkapital mehr als halbiert ( - 56 Prozent)
2010/2011: 3,6 Milliarden Euro
2011/2012: 5,8 Milliarden Euro. Die Nettofinanzschulden sind damit gegenüber dem Vorjahr um mehr als 60 Prozent gestiegen.
2010/2011: 0,45 Euro
2011/2012: keine Dividende
Zum Stichtag am 30. September 2012 beschäftigte ThyssenKrupp 167.961 Mitarbeiter. Das sind mehr als 12.000 weniger als im Vorjahr.
Der Belastete kontrolliert den Unbelasteten? Verkehrte Welt? Dass Cromme mitschuldig sei, sagen viele Aktionäre, die im Vorfeld der Hauptversammlung am Freitag, den 18. Januar, bereits die Messer wetzen. Sie wollen auch Cromme das größte Desaster der Firmengeschichte anlasten. Wen oder was hat Cromme wann in den vergangenen Jahren kontrolliert? Die FAZ forderte bereits in einem Kommentar den Rücktritt von Cromme.
Die Frage stellt sich auch für Kerkhoff: Nützen Gutachten von Rechtsanwälten, die fast schon inflationär von Cromme beauftragt werden, diesem oder jenem die Schuld oder Unschuld zu attestieren? Die einzigen, die wirklich als Schafe im Schafspelz bei ThyssenKrupp auftreten können, sind Hiesinger und Kerkhoff. Dem Finanzchef kommt dabei eine besondere Rolle zu.
„Wir verfügen über ausreichend Liquidität und ein ausgewogenes Fälligkeitsprofil, so dass in Zukunft kein Refinanzierungsbedarf besteht“, hat Kerkhoff bereits erklärt. Wenn ein Finanzvorstand so etwas öffentlich sagt, dann muss es ziemlich schlecht um einen Konzern stehen.
So viel Offenheit ist für ThyssenKrupp ungewohnt
Kerkhoff hat bei ThyssenKrupp gelernt, nur Dinge zu sagen, die dringend notwendig sind. Das musste er erst lernen. Als er im April 2011 von der Telekom zu ThyssenKrupp wechselt, trat er noch locker-flockig nach Art eines New Economy-Managers auf. Er werde eine herausgehobene Stellung als Finanzchef bei ThyssenKrupp haben, sagte er vor Antritt seines Jobs in Essen am Rande einer Mobilfunkmesse in Barcelona im Februar 2011.
Herausgehobener jedenfalls als seine Vorgänger. Er wolle sich nicht nur um das Zahlenwerk im Konzern kümmern, sondern die Aufgabe eines CO-CEOs übernehmen, der zusammen mit ThyssenKrupp-Vorstandschef Hiesinger auch um das operative Geschäft kümmert. Soviel Offenheit war man bis dato von ThyssenKrupp-Vorständen nicht gewohnt gewesen.
Er wolle auch einen Wandel der Unternehmenskultur einleiten, sagte Kerkhoff damals unter Anspielung auf die Firmenkultur, die er von der Telekom her kannte. Und die war nach seiner Wahrnehmung der Internet-Branche entlehnt. Also spontan und unbürokratisch, wenig hierarchisch und erst recht nicht angstbesetzt und obrigkeitshörig? Diese Attribute werden von ThyssenKrupp-Managern zunehmend der Führungskultur von ThyssenKrupp zugeschrieben. Alle haben Angst, beim Krupp-Patriarchen Berthold Beitz, 99, und seinem Aufsichtsratschef Cromme, 69, in Ungnade zu fallen. Deswegen muckt keiner auf, passen sich alle an, auch an Fehlentwicklungen. Hauptsache: Nicht auffallen, um sich nicht unversehens auf der Straße wieder zu finden.
Die heißt vor dem ThyssenKrupp-Hauptquartier nun dummerweise „Berthold-Beitz-Boulevard“. Selbst den Gefeuerten bleibt das System Krupp also auch draußen vor der Tür eine Weile auf den Fersen. Es wird schwer, mit und unter Cromme und Beitz den Kerkhoff-Kulturwandel einzuleiten.