Deutschland ist nicht das einzige typische Einwanderungsland. Bei unseren Nachbarn in der Schweiz leben acht Millionen Menschen, 23 Prozent davon sind Ausländer oder haben einen ausländischen Hintergrund. Die größte Gruppe bilden die Italiener mit rund 290.000 Menschen, dann kommen die Deutschen mit rund 276.000 Menschen, dann rund 224.000 Portugiesen, 102.000 Serben sowie Franzosen (99.500), Asiaten (95.000), Amerikaner (72.000), Kosovaren (72.000), Türken (70.000), Spanier (66.000), Mazedonier (61.000) und Afrikaner (60.600).
Maggi Fix und Spreewaldgurken in der Schweiz
Mit diesen Menschen lässt sich Geld verdienen. Auch viele Schweizer Einzelhändler haben das begriffen. So führt Migros, das größte Einzelhandelsunternehmen der Schweiz, "deutsche Lieblingsprodukte" im Sortiment.
Für die zweitgrößte Ausländergruppe des Landes stehen in 30 Filialen in Zürich Duplo, Erasco-Eintöpfe, Pfanni-Knödel, Spreewaldgurken, Löwen-Senf, Leipniz-Kekse sowie Maggi Fix und Tütensuppen von Knorr im Regal. Für das Unternehmen lohnt es sich, deutsche Produkte anzubieten: Mit mehr als 30.000 Menschen bilden die Deutschen die größte Ausländergruppe in Zürich, sogar noch vor Italienern, Serben und Montenegrinern. "Wir konnten bei der Sortimentsauswahl von Erfahrungen der "Migros Deutschland" profitieren", sagt Andreas Reinhart von der Genossenschaft Migros Zürich. "Gleichzeitig haben wir Deutsche in unserem Umfeld direkt nach Ihren Bedürfnissen gefragt." Dementsprechend gut funktionieren Kohlroulade und Co. "Der Absatz ist erfreulich, wir sind sehr zufrieden", sagt Reinhart. Mittlerweile sei ein regelrechter Dialog mit den deutschen Kunden entstanden, die sich Lebensmittel aus der alten Heimat auch im neuen Zuhause wünschen.
Die Wurzeln der deutschen Konsumenten
Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund liegt bei über 16 Millionen. Das heißt, dass knapp 20 Prozent der Bevölkerung Eltern oder Großeltern haben, die nicht in Deutschland geboren wurden.
Rund sieben Millionen Menschen in Deutschland haben eine ausländische Staatsangehörigkeit.
Ein Großteil der Migranten in Deutschland, nämlich rund drei Millionen Menschen, haben einen türkischen Familienhintergrund.
Rund 2,5 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, stammen aus einem der Staaten, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgingen. Heißt: 2,5 Millionen Menschen haben ihre Wurzeln ursprünglich in Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Estland, Georgien, Kasachstan,
Kirgisistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, der Ukraine oder Usbekistan.
1,3 Millionen Menschen stammen jeweils aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Polen.
Die deutschen Kunden sind aber nicht die Einzigen, die der Schweizer Einzelhandel umgarnt. Das ohnehin umfangreiche Ethno-Sortiment der Migros verändert sich immer wieder, wie Reinhart erzählt. "Die jüngsten Zugänge kommen aus Österreich: Kaiserschmarrn und Semmelknödel im Convenience-Regal." Auch das zweitgrößte Handelsunternehmen Coop, das seinen deutschen Pendants schon beim Thema Lebensmitteltransparenz einiges voraus hat, hat erkannt, dass sich mit den Migranten in der Schweiz ein gutes Geschäft machen lässt. Bei Coop gibt es im Sortiment auch türkische Produkte - und auch hier wird das Sortiment für diese Zielgruppe regelmäßig erweitert.
Nur der deutsche Handel lässt, abgesehen von Wellness oder In-Food wie Sushi, das sogenannte Ethno-Marketing links liegen. Es scheint, als würde der deutsche Lebensmitteleinzelhandel auf Umsätze in Millionenhöhe verzichten, weil er so tut, als gäbe es keine Migranten in Deutschland.
Umsatzchance verschlafen
Dabei haben alleine die Türken in Deutschland eine Kaufkraft von mehr als 20 Milliarden Euro, wie Experten von Ethnomarketing.net schätzen. Die mehr als 2,5 Millionen Menschen in Deutschland, die aus den Nachfolgerstaaten der Sowjet-Union stammen, geben sogar etwas mehr als 30 Milliarden Euro pro Jahr für Konsum und Lebensmittel aus. Nur eben kaum im deutschen Einzelhandel, weil dieser ihre Bedürfnisse ignoriert. Die Schätzungen, wie viel Geld dem Handel dadurch durch die Lappen gehen, variieren.
Fünf Milliarden Dollar Umsatz mit Halal-Produkten
Mit islam-konformen Produkten, sogenannten Halal-Lebensmitteln, wurde allein im Jahr 2010 europaweit 67 Milliarden Dollar Umsatz generiert. Nach Schätzungen haben die rund 400 Unternehmen in Deutschland, die Halal-Produkte anbieten, circa fünf Milliarden Dollar umgesetzt. Verkauft wurden sie nur eben kaum in deutschen Geschäften, sondern in den rund 10.000 türkischen und arabischen Supermärkten, die es in der Bundesrepublik gibt.
Herkunftsländer der deutschen Muslime
Knapp 2,6 Millionen der in Deutschland lebenden Muslime haben türkische Wurzeln.
Aus den Albanien, Bosnien-Herzegowina und Bulgarien stammen etwa 550.000 Personen.
Mit 330.000 Menschen kommt die drittgrößte muslimische Bevölkerungsgruppe in Deutschland aus dem Nahen Osten, konkret aus Ägypten, Irak, dem Libanon oder Syrien.
Aus Nordafrika kommen zwischen 280.000 der in Deutschland lebenden Muslime, die Mehrzahl davon aus Marokko.
Weitere 186.000 Menschen muslimischen Glaubens stammen aus Zentralasien.
70.000 Muslime, die in Deutschland leben, haben ihre Wurzeln im Iran.
Die zweitkleinste Gruppe der Muslime in Deutschland kommt dem sonstigen Afrika.
Die kleinste Gruppe der Muslime in Deutschland stammt aus Süd- beziehungsweise Südostasien. Rund 17.000 Menschen stammen aus dieser Region.
"Die Rewe Group beobachtet die Entwicklung bezüglich Halal noch. Derzeit gibt es keine entsprechend ausgelobten einzelne Produkte", sagt Raimund Esser, Bereichsleiter Unternehmenskommunikation bei der Rewe Handelsgruppe. In Anbetracht der Tatsache, dass es die muslimischen Kunden hierzulande nicht erst seit einigen Monaten gibt, eine eher unverständliche Haltung.
Etwas offener geht Konkurrent Edeka dem Thema ausländische Kundschaft um: "Selbstverständlich bieten eine Vielzahl von Edeka-Märkten bereits islamkonforme Lebensmittel (Halal-Produkte) an", heißt es seitens des Unternehmens. So biete die Filiale in Bremen Walle beispielsweise eine besonders große Auswahl an Halal-Produkten an und ein Edeka-Markt in Hamburg führe koschere Produkte für die jüdischen Kunden. Dazu gehören Produkte, die unter anderem kein Blut oder Fleisch von Schweinen, Pferden, Kaninchen, Wild oder Meeresfrüchten enthalten. Die Entscheidung, welche Artikel ins Sortiment der jeweiligen Märkte aufgenommen werden, treffen die rund 4.500 selbstständigen Kaufleute des Unternehmens abhängig von der konkreten Kundennachfrage.
Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Weil der deutsche Lebensmitteleinzelhandel die breite und kaufkräftige Zielgruppe der Muslime jahrelang völlig ignoriert hat, haben sich parallele Einkaufsstrukturen gebildet, wie Christian Böttcher vom Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels (BVL) sagt. "Die Muslime gehen gerade in den Großstädten eher in den türkischen Supermarkt."
Geringes Vertrauen in den Handel
Engin Ergün, Geschäftsführer des Düsseldorfer Beratungsunternehmens ethno IQ, wundert das kaum. Die türkischen und arabischen Supermärkte böten ihren Kunden ein ganzheitliches Konzept und eine hohe Glaubwürdigkeit. Das Produktsortiment sei weitaus größer als im deutschen Lebensmitteleinzelhandel und - was entscheidend sei - "die Kunden können sich sicher sein, dass die Produkte keinen Alkohol und keine Spuren von Schweinefleisch enthalten."
Im deutschen Zertifikate-Wust aus zahlreichen Öko-, Bio-, Regional-, Nachhaltig- oder eben auch Halal-Siegeln blickt ohnehin fast niemand durch, und wenn es Pferdefleisch ins Rinderhack schafft, dann vielleicht auch Schweinefleisch in die Geflügelsalami. Dieses Risiko wollen die Kunden nicht eingehen und kaufen lieber bei ihrem türkischen Markt nebenan. "Die muslimischen Kunden vertrauen dem Ladenbesitzer", sagt Ergün. Schließlich stehe hinter dem jeweiligen Geschäft keine anonyme Kette, sondern eine Familie, die im gleichen Viertel wohnt und die man kennt.
"Taste of Home" für Europa - nur nicht für Deutschland
Ergün hat das Unternehmen ethno IO 2007 gegründet und begleitet seit dem deutsche Unternehmen, die ihre Produkte auch auf den arabischen Markt bringen wollen. Unter anderem berät sein Unternehmen Haribo, Vodafone, Maggi oder den Konsumgüterhersteller Procter & Gamble. Denn die großen deutschen Unternehmen sind alle auch in der arabischen Welt tätig und die Lebensmittelhersteller verkaufen dort natürlich Halal-Produkte - nur eben in Deutschland nicht.
Auch Meike Schmidt von Nestlé erzählt, dass sich der Nahrungsmittelkonzern zwar grundsätzlich den Bedürfnissen in den jeweiligen Märkten anpasse und in rund einem Viertel seiner weltweit 461 Fabriken auch Halal-Produkte herstelle. "In Europa erhöht Nestlé kontinuierlich sein Angebot an Halal und "Ethic"-Lebensmitteln", sagt Schmidt. "Wir haben Halal-zertifizierte Produktionsanlagen in 20 europäischen Fabriken." So habe es im Jahr 2011 eine Kampagne mit dem Namen "Taste of Home" gegeben, bei der in Europa kleinere Eckläden mit Halal-Produkten beliefert worden seien. Nur auf dem deutschen Markt gibt es keine islam-konformen Lebensmitteln des Schweizer Industrieunternehmens.
Halal-Pizza - nur ohne erkennbares Siegel
Die Marke Dr. Oetker produziert seit 2008 Halal-zertifizierte Tiefkühlpizza. So sind die Pizzen Spinaci, Vegetale, Tonno, Mozzarella, Quattro Formaggi, Funghi, Formaggi & Pomodori und Pepperoni der Reihe "Ristorante Pizza" alle halal. "Ein Ausbau ist geplant, gestaltet sich jedoch schwierig, da es nicht sehr viele Hersteller, Schlacht- und Zerlege-Betriebe gibt, die Halal-zertifiziert sind und die entsprechenden Rohwaren liefern können", sagt Christina Krumpoch vom Lebensmittelkonzern Dr. Oetker. Die von der SGS Germany GmbH Halal zertifizierten-Pizzen werden, wie auch die islam-konformen Nestlé-Produkte ausschließlich ins Ausland exportiert.
Im deutschen Handel liegen zwar die gleichen Pizzen, die auch in die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, den Libanon, Singapur, Malaysia, China, Australien oder Südafrika verkauft werden, hierzulande suchen Kunden das entsprechende Siegel aber vergebens. "Da für die Produkte auf dem deutschen Markt keine Zertifikate vorliegen, erfolgt keine diesbezügliche Werbung", sagt Krumpoch. Auf Anfrage teilt das Unternehmen den Kunden aber mit, welche Produkte frei sind von Schweinefleisch und Alkohol.
Letzte Chance E-Commerce
Eine richtige Erklärung, warum eine immerhin rund vier Millionen Menschen umfassende Bevölkerungsgruppe vom Lebensmittelhandel fast vollständig ignoriert wird, hat so gut wie niemand. "Die Asia-Food-Ecke oder die mexikanische Ecke spricht den deutschen Kunden an, der asiatisch kochen möchte. Aber deutsche Kunden wollen nicht halal kochen. Vielleicht lohnt es sich deshalb nicht", mutmaßt ethno IQ-Geschäftsführer Ergün. Denn schließlich müsse die Produkteinführung wie auch beim Asiafood bewusst und ganzheitlich geschehen. "Dazu gehört Werbung und ein Konzept, das geht nicht nebenbei."
Wenn sich der deutsche Lebensmitteleinzelhandel mal an Halal-Produkten versuche, geschehe dies aber eher schlecht als recht. "Die wenigen Produkte sind so versteckt, das ist doch kein Einkaufserlebnis", resümiert Ergün. So werden die wenigen Funde in deutschen Kühlregalen regelrecht gefeiert. Userinnen im Forum muslima-aktiv.de beispielsweise informieren sich umgehend darüber, in welchem Supermarkt es Produkte gibt, die sie bedenkenlos essen können. "Ui ich weiß nicht in wie weit ihr das schon gesehen habt aber Edeka und Rewe haben tollen Halal aufschnitt (tolle geräucherte Hühnchen brust oder Geflügel Salami) von Wiesenhof auch tolle Käsewiener :) Habe mich total gefreut" schreibt da eine Userin und eine andere antwortet: "danke: für die Info.....Ein Lichtblick...."
Halal-E-Commerce kommt
Da aber auch in Geflügelprodukten in Deutschland Schweinefleisch enthalten sein darf, ist die Freude meist schnell dahin - und das Vertrauen gleich mit. Wenn der deutsche Lebensmittelhandel noch etwas vom islam-konformen Umsatzkuchen abhaben möchte, bleibt ihm nur, auf den Onlinehandel zu setzen. Das derzeit bestehende Angebot ist nämlich noch sehr gering. "E-Commerce ist bei muslimischen Kunden noch nicht so weit verbreitet", bestätigt auch Ergün. Er ist sich allerdings sicher, dass sich das in den nächsten vier bis fünf Jahren ändern werde. Und das sollte der deutsche Handel nicht verschlafen. Noch sei die Situation so, dass sich die Kunden zwar online über Angebot und Preise informieren, beim "Einkaufen aber das persönliche schätzen", sagt Ergün.
Lebensmittelhandel im Netz muss sich ändern
Doch das geht den deutschen Kunden, die dem Online-Lebensmittelhandel noch skeptisch gegenüber stehen, nicht anders. Die persönliche Ansprache lässt sich mit Erkenntnissen aus dem sogenannten Neuromarketing verbessern: Forscher haben festgestellt, dass Unternehmen, die ihren Webkunden einen animierten Berater an die Seite stellen, der sie begrüßt und bis zur virtuellen Kasse begleitet, bessere Umsätze machen als die, die ihre Kunden allein durchs digitale Sortiment stolpern lassen.
Wenn der Handel dann noch die Probleme mit dem Verpackungsmüll in den Griff bekommt, Kunden ihren Joghurt nicht eine Woche im Voraus bestellen müssen und es die Lebensmittel sowohl frisch als auch unbeschädigt bis an die Haustür schaffen, spricht vieles für die zusätzliche Einnahmequelle Online-Handel. Und dann sollte es doch auch kein Problem sein, neben Wiener Würstchen, Sushi und Fertig-Pizza auch zertifiziert Produkte ohne Schweinefleisch oder Alkohol zu versenden.