Zensur-Vorwürfe Deutsches Gericht verbietet Facebook erstmals Löschung eines Kommentars

Die Grundrechte stehen über den Hausregeln von Facebook. Das Urteil setzt das Netzwerk unter Druck – und die Politik.

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Düsseldorf Wie weit reicht die Meinungsfreiheit? Darüber müssen die Mitarbeiter von Facebook und den Dienstleistern des Konzerns jeden Tag tausendfach entscheiden. Doch dabei kommt es immer wieder zu zweifelhaften Entscheidungen: Mal bleiben Schmähungen und Hasskommentare stehen, mal werden scharfe, aber rechtmäßige Äußerungen entfernt.

Der Anwalt Joachim Steinhöfel hält das für Willkür – und hat jetzt erstmals vor einem deutschen Gericht eine Entscheidung erstritten, die Facebook die Löschung eines Kommentars untersagt, ebenso wie die darauf beruhende Sperre. Das Landgericht Berlin hat per einstweiliger Verfügung in diesem Sinne entschieden (Beschluss vom 23. März 2018, 31 O 21/18).

In Deutschland gilt seit Jahresanfang das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das Online-Netzwerke dazu verpflichtet, rechtswidrige Inhalte zügig zu löschen.

Tun sie das nicht, drohen hohe Bußgelder. Steinhöfel hält es jedoch für verfassungswidrig – es sei ein „Brandbeschleuniger der aktuellen willkürlichen Lösch- und Sperrpraxis“. Der Beschluss sei ein erstes Gegenmittel.

Konkret ging es darum: Ein Nutzer hatte einen Zeitungsartikel kommentiert, in dem es unter anderem um Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland ging. Er schrieb: „Die Deutschen verblöden immer mehr. Kein Wunder, werden sie doch von linken Systemmedien mit Fake-News über ‚Facharbeiter‘, sinkende Arbeitslosenzahlen oder Trump täglich zugemüllt.“

Facebook entschied, dass das gegen die Gemeinschaftsstandards verstieß, löschte den Kommentar und sperrte den Nutzer. Dagegen ging Steinhöfel gerichtlich vor – und konnte einen Erfolg verbuchen.

Er sieht damit die Grundrechte gestärkt: „Das Verfassungsgericht legt die Meinungsfreiheit extrem weit aus, es kann nicht sein, dass Facebook den Nutzern das freie Wort abschneidet“, sagte er dem Handelsblatt.

Wenn Facebook löscht oder sperrt, beruft sich das Unternehmen auf seine Gemeinschaftsstandards. Eine Art Verzeichnis von Hausregeln, die Nutzer beachten sollen, wenn sie im größten sozialen Netzwerk unterwegs sind.

In Deutschland wachen zwei Löschteams in Essen und Berlin über die Einhaltung dieser Standards. Dabei sind sie jedoch auf die Mitarbeit der Nutzer angewiesen: Wird ein Kommentar gemeldet, kontrolliert ein Mitarbeiter und löscht im Zweifelsfall.

Doch Steinhöfel erkennt in dieser Praxis Willkür: „Die Gemeinschaftsstandards stehen nicht über dem deutschen Recht.“ Zumal die Regeln „in ihrer Beliebigkeit und Unbestimmtheit nicht zu übertreffen“ und damit kaum nachvollziehbar seien, kritisiert der Rechtsanwalt.

Dass der Konzern nur sein Hausrecht ausübt, will Rechtsanwalt Steinhöfel jedoch nicht gelten lassen: „Faktisch ist Facebook bei den sozialen Medien Monopolist. Es gibt nur ein so großes Forum für jedermann.“

Die Grundrechte hätten hier eine Drittwirkung. Sprich: Sie betreffen auch privatrechtliche Verträge wie Geschäftsbedingungen. „Es kann nicht sein, dass man eine Wohlfühlstimmung erzeugt unter der Einschränkung der Meinungsfreiheit“, betont Steinhöfel.

Er sieht Facebook als eine Plattform für den öffentlichen Diskurs – und auch für Kontroverse. „Wenn man so ein Geschäftsmodell hat, muss man auch in der Lage sein, mit den Konsequenzen zu leben. Und das heißt in erster Linie hinreichend sachkundiges Personal zu beschäftigen.“ Facebook wollte den Beschluss bisher nicht kommentieren.

Tatsächlich setzt der Beschluss nicht nur den Konzern unter Druck, sondern auch die Politik, zeigt es doch die Schwachstellen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, das Hass und Fälschung im Netz bekämpfen sollen.

Es war ein Prestigeprojekt des ehemaligen Bundesjustizministers Heiko Maas, der damit der nicht abreißenden Debatte um Hasskommentare und Fälschungen begegnete. Das Gesetz brachte vor allem eine entscheidende Neuerung: Für Konzerne wie Facebook, Twitter oder Google gelten nun Fristen, in denen sie strafbare Inhalte prüfen und entfernen müssen. Kommen sie dem nicht nach, drohen hohe Geldbußen.

Kritiker und auch die Konzerne selbst verwiesen darauf, dass sie nicht zu Richtern über legal und illegal werden wollten. Medienexperten warnten davor, dass Facebook und Co. im vorauseilendem Gehorsam im Zweifel lieber mehr als zu wenig löschen würden.

Zudem: Die Mitarbeiter des Löschteams dürften nicht genug Wissen über die Komplexitäten des deutschen Rechts besitzen, um profunde, nicht-justiziable Entscheidungen treffen zu können.

Für Steinhöfel geht es nicht nur um ein Mandat, sondern einen Grundsatz. Seit 2016 sammelt er auf einer „Wall of Shame“ Beispiele, wie Facebook seiner Einschätzung nach gegen geltendes Recht verstößt – einerseits, indem das Unternehmen Inhalte löscht, die vermutlich nicht gegen das Gesetz verstoßen, andererseits, indem es selbst Mordaufrufe online lässt.

Steinhöfel hofft, dass der Beschluss aus Berlin Signalwirkung hat. Er wäre bereit, gegen das NetzDG durch die Instanzen bis vor den Bundesgerichtshof (BGH) zu ziehen – „der Mandant ist dazu bereit“. Der Jurist erwägt, eine Spendenseite aufzubauen, über die Nutzer einen solchen Prozess unterstützen können. Es soll nicht bei einer „Wall of Shame“ bleiben.

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