Zäh und beharrlich – so hat Jörn Aldag gekämpft, jahrelang. Selbst als seine Firma mal insolvent war, machte er weiter. Vier Anläufe brauchte er, bis endlich die Europäische Arzneimittelbehörde grünes Licht gab. Doch jetzt hat der 56-jährige Deutsche es endlich geschafft: Aldag hat die erste Gentherapie in der westlichen Welt auf den Markt gebracht, mit garantierter Kostenerstattung durch die Krankenkasse.
Dieser Tage werden Mediziner in Deutschland erstmals die Erbanlagen eines Patienten mit einer sehr seltenen Fettstoffwechselkrankheit reparieren. Glybera lautet der Name der neuen Genkur. Sie schleust die Erbinformation, die diesen Patienten von Geburt an fehlt, mithilfe eines zuvor im Labor präparierten Virus in deren Zellen ein:
So funktioniert die Methode der Gentherapie
Ein Gentest zeigt, die Patientin besitzt ein fehlerhaftes Gen.
Forscher beladen einen Virus mit der gesunden Variante des Gens.
Die Patientin erhält eine Spritze mit den Viren in den Oberschenkel.
Die Viren entern die Zellen der Patientin und schicken die korrekte Genvariante in den Zellkern.
Die Therapie hat ihren Preis: Stolze eine Million Euro kostet die Spritze in den Oberschenkel. Kein Wunder, dass Aldag, Chef des Amsterdamer Biotech-Start-ups Uniqure, zwei Jahre kämpfen musste, bevor die Krankenkassen die Kosten übernahmen. Im November war es so weit. „Seither können Ärzte Glybera verschreiben“, sagt er.
Damit ist ihm etwas gelungen, was etliche andere Firmen während der vergangenen 25 Jahre in den Ruin getrieben hat. Nur in China ist seit 2003 eine – umstrittene – Gentherapie gegen Krebs zugelassen. Nun schauen Forscher und Investoren gespannt auf die 120 Mitarbeiter starke Uniqure, die 2014 beim Börsengang knapp 92 Millionen Dollar einsammelte. Zur Vermarktung hat sich Aldag mit dem italienischen Pharmaunternehmen Chiesi Farmaceutici zusammengetan.
Defekte Gene im Körper zu reparieren – dieser einfachen wie genialen Idee hat Aldag enormen Aufwind verschafft. Kaum hat sich das über Jahre versperrte Tor zum Markt geöffnet, gründen Forscher reihenweise Start-ups und bekommen Millionen an Kapital. Auch die Pharmakonzerne entdecken das Feld neu und investieren Milliarden.
Schon jetzt ist klar: Nach der Initialzündung durch Glybera werden bald weitere Gentherapien gegen seltene, bisher unheilbare und tückische Erbkrankheiten auf den Markt kommen – etwa für Bluter oder Blinde. Einige Jahre später wird die Genreparatur auch bei Volksseuchen wie Krebs, Parkinson oder Herzkreislaufleiden helfen. Seit 2011 steigt die Zahl neu begonnener klinischer Studien am Menschen pro Jahr um etwa 20 Prozent, wie aus dem zentralen Register des Fachblatts „Gene Medicine“ hervorgeht (siehe Grafik).
Forscher nutzen Viren als trojanisches Pferd
Noch vor wenigen Jahren sah das ganz anders aus. Forscher zogen sich scharenweise aus dem Feld zurück. Kaum ein Investor oder Pharmamanager hätte noch einen Cent auf diese in den Neunzigerjahren hochgejubelte Technik gesetzt. Das Problem: In den ersten euphorischen Jahren waren die Genfähren, mit denen die Mediziner das Erbgut in den Kern menschlicher Zellen bugsieren, alles andere als sicher: Sie luden die Gene mitunter an den falschen Stellen ab, aktivierten Krebsgene oder lösten heftigste Abwehrreaktionen des Körpers aus – einige Patienten starben sogar. Zudem gibt es die theoretische Möglichkeit, mit diesem Verfahren Ei- und Spermazellen zu manipulieren und so Designerbabys zu schaffen, mit ganz anderen Erbanlagen als ihre Eltern – was die große Mehrzahl der Forscher und Unternehmer der Branche heute kategorisch ablehnt.
Nach den Pannen waren die Behörden in Europa und Nordamerika extrem vorsichtig geworden. „Die Methode stand vor dem Aus, bevor sie jemand richtig nutzen konnte“, erzählt Wolfgang Uckert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie. Inzwischen haben die Forscher allerdings eine ganze Reihe neuer Viren als Gentransporter rekrutiert, die sehr viel sicherer sind als die ersten Modelle.
Die Entwicklung der Gentherapie
Es ist der erste offiziell genehmigte Gentherapieversuch: French Anderson behandelt am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA die vierjährige Ashanti DeSilva. Sie leidet an einem angeborenen Immundefekt (SCID) und muss in einem Isolierzelt leben, um sich vor Erregern zu schützen. Die von Viren in Ashantis Zellen transportierten Gene helfen. Zugleich bricht eine Debatte los, ob Genreparaturen an Embryonen verboten werden sollen.
In Europa behandelt Claudio Bordignon am Mailänder San Raffaele Telethon Institute for Gene Therapy SCID-Kinder erfolgreich per Gentherapie. Der Erwartungsdruck wächst.
Der 18-jährige Jesse Gelsinger stirbt bei einem Gentherapieversuch am Humangenetischen Institut der University of Pennsylvania. Er litt an einer milden Form einer erblichen Stoffwechselkrankheit und hatte sich als Freiwilliger gemeldet. Das Immunsystems seines Körper reagierte so heftig auf die Genfähre, dass er an Multiorganversagen starb. Im Nachhinein wurde klar, dass die Reaktion absehbar gewesen war, Studienleiter James Wilson ihn aber trotzdem behandelte. Der verlor seinen Job als Institutsdirektor, die Universität bezahlte 500.000 Dollar Strafe.
Alain Fischer und Kollegen behandeln am Necker Hospital in Paris SCID-Kinder. Der Immundefekt ist damit behoben, aber bei einigen der jungen Patienten aktiviert die Genfähre ein Krebsgen, sie erkranken an Leukämie. Ein Kind stirbt daran. Die Ärzte können die anderen Betroffenen retten, diese sind auf Dauer von ihrem Immundefekt geheilt.
China lässt die Therapie der Sibiono GeneTech, Shenzhen, zu. Sie bringt das Wächtergen p53 in Krebszellen, was diese in den Selbstmord treibt.
Die texanische Biotech-Firma Introgen zieht ihren Antrag für eine p53-Therapie bei der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) zurück, weil ihr die Insolvenz droht. Der britische Anbieter Ark Therapeutics zieht den Antrag für eine andere Krebstherapie zurück. Die EMA war nicht zu überzeugen, dass die Vorteile der Behandlung deren Risiken überwiegen.
Die EMA lässt mit Glybera die Gentherapie der niederländischen Uniqure gegen eine seltene Stoffwechselkrankheit zu.
Glybera kommt in Deutschland auf den Markt. Preis: eine Million Euro.
Der Job eines Virus ist es, andere Organismen zu infizieren, sprich Zellen zu entern und das eigene Erbgut in deren Kern zu bringen. Der Grund: Da Viren ihre Gene nicht selbstständig vervielfältigen können, müssen sie die Zellen der von ihren befallenen Menschen dazu bringen, es für sie zu tun. Sonst können sie sich nicht vermehren. Genau diesen Mechanismus nutzen Forscher und schieben den Viren wie einem trojanischen Pferd das heilsame Erbgut unter. Dabei stutzen sie die Viren im Labor aber so zurecht, dass sie nicht mehr krank machen.
Die Entwickler von Uniqure haben in Studien gezeigt: Die neuen Genfähren sind sicher, und die neue Therapie ist wirksam. Damit besteht zum ersten Mal Hoffnung auf Heilung für Menschen, die an der erblichen Fettstoffwechselerkrankung Lipoproteinlipase-Defizienz leiden. Sie müssen sich ihr Leben lang völlig fettfrei ernähren, weil ihr Körper Butter, Öl und Co. nicht abbauen kann. Das Leiden ist extrem selten: Bei einer Million Menschen treten nur ein bis zwei Fälle auf. Das sind gerade einmal 80 bis 160 Menschen in Deutschland.
Nehmen sie versehentlich doch kleinste Mengen Fett zu sich, bekommen sie starke Bauchschmerzen. Langfristig entzündet sich die Bauspeicheldrüse, was lebensbedrohlich sein kann. Geradezu normal können dagegen jene Patienten leben und essen, denen Ärzte in den Glybera-Versuchen einmal eine Dosis der Virusfähre mit dem fehlenden Gen gespritzt haben. Selbst nach sechs Jahren noch.
Für Uniqure-Chef Aldag ist das der unschlagbare Vorteil gegenüber herkömmlichen Therapien: „Einmal gegeben, funktioniert die Gentherapie viele Jahre, möglicherweise sogar ein Leben lang.“ Das ist wunderbar für die Geheilten, macht es aber kompliziert, einen Preis festzusetzen. Denn kassieren kann Uniqure nur einmal.
Die Preissetzungen erfordern Kreativität
Aldag hat vorerst mit den Kassen eine recht opulente Kostenerstattung von einer Million Euro pro Glybera-Kur ausgehandelt. Der endgültige Preis wird aber erst jetzt, im ersten Jahr der Zulassung, festgezurrt. Aldag kann sich vorstellen, dass die Versicherer die Therapie, die viele Krankenhausaufenthalte erspart und über Jahre wirkt, in Raten bezahlen: „Solange das Gen aktiv ist, ist eine Zahlung fällig.“
Bei der Preissetzung sei in Zukunft noch einiges an Kreativität gefordert, glaubt Aldag. Denn viele Therapien, die jetzt auf den Markt kommen, heilen Patienten mit schwerwiegenden, aber sehr seltenen Erbkrankheiten. Bei ihnen funktioniert ein einziges Gen nicht richtig, das macht sie zu idealen Kandidaten für diese Methode.
So wie bei Blinden mit dem Augenleiden Lebersche Amaurose. Mit einer einzigen Injektion direkt ins Auge konnten Forscher des Children’s Hospital of Philadelphia und der University of Pennsylvania ihnen ermöglichen, wieder wenigstens etwas zu sehen. Je jünger die Patienten waren, desto durchschlagender war der Effekt. Zwei der Wissenschaftlerinnen, Katherine High und Jean Bennett, haben mit Kollegen 2013 die Firma Spark Therapeutics gegründet. Damit „Gentherapie Wirklichkeit wird“, wie sie selbstbewusst verkünden. Innerhalb eines Jahres sammelten sie 83 Millionen Dollar Wagniskapital ein. Der Börsengang im Januar erbrachte 161 Millionen Dollar.
Mit ihrer Therapie ist die Firma bereits in der dritten und damit letzten Versuchsphase am Menschen. Sie erhielt im November von der US-Zulassungsbehörde FDA das Prädikat Durchbruch-Therapie, was eine schnelle Genehmigung wahrscheinlich macht. Die Spark-Leute wollen bis Ende des Jahres die Studie auswerten und die Zulassung Anfang 2016 beantragen.
Zwar ist das Leiden selten: In Europa und den USA leben nur 3500 Patienten. Aber die betroffene Erbanlage ist nur eine von 220, die Augenerkrankungen verursachen. Ein weiteres, weit häufigeres Blindmacher-Gen zu reparieren testen die Forscher bereits in Phase 1/2 am Menschen.
Das junge Start-up hat noch ein weiteres spannendes Projekt in der Pipeline: eine Therapie gegen die Bluterkrankheit, die Hämophilie. Je nachdem welcher der Blutgerinnungsfaktoren den meist männlichen Patienten fehlt, wird die Krankheit in A oder B eingeteilt – und sie betrifft immerhin einen von 5000, beziehungsweise einen von 25.000 Männern. Stoßen sich die Betroffenen auch nur leicht, kann es zu unstillbaren Blutungen kommen. Seit vielen Jahren können sich zumindest Patienten mit der häufigeren A-Variante mit biotechnisch hergestellten Medikamenten behelfen: Faktor VIII gehört zu den Branchenklassikern – ein Milliardenmarkt.
Das lukrative Geschäft, an dem Pharma- und Biotech-Größen wie Amgen, Bayer, Baxter und auch Pfizer gut verdienen, könnte in Zukunft in Richtung Gentherapie abwandern. Deshalb hat Pfizer sich im Dezember bei Spark eingekauft: 20 Millionen Dollar bekam die Gentherapiefirma sofort, 260 Millionen Dollar sollen im Laufe der Kooperation folgen. Noch in diesem Halbjahr beginnen erste Tests an Menschen.
Gentherapie gegen Krebs
Der nächste Schwung Gentherapien wird einen echten Massenmarkt betreffen: Krebs, eine der häufigsten Todesursachen in der westlichen Welt. Einer der Pioniere in diesem Feld ist die chinesische Firma Sibiono GeneTech aus Shenzhen. Sie hat bereits seit 2003 in China eine Zulassung, um Tumore im Kopf und am Hals zu bekämpfen. Dazu bringen die Forscher mithilfe eines Virus Wächtergene in die Krebszellen, die dann ein Selbstmordprogramm starten: Der Tumor schrumpft. Diese Gene lassen normalerweise Zellen sterben, deren Erbgut aufgrund ihres Alters, durch UV-Strahlung oder Giftstoffe Defekte bekommen haben. In Krebszellen ist dieser Selbstschutz außer Kontrolle geraten.
Formen der Krebs-Therapie
Bei einer Operation wird der Tumor entfernt, häufig auch die umliegenden Lymphknoten um eine Streuung zu vermeiden. Eine Operation allein reicht meist nicht aus.
Quelle: Bayerische Krebsgesellschaft
Dabei kommen bestimmte Medikamente, sogenannte Zytostatika, zum Einsatz. Sie können bösartige Tumoren zerstören oder zumindest ein weiteres Wachstum verhindern. Die Medikamente greifen in den Zell-Stoffwechsel ein. Weil sie aber nicht zwischen gesunden Zellen und Tumorgewebe unterscheiden können, kommt es zu Nebenwirkungen, etwa Haarausfall, Erbrechen, Immunschwäche. Weil sich das Normalgewebe aber schneller regeneriert, wirkt die Chemotherapie auf Krebszellen stärker.
Der Tumor wird vor, nach oder anstelle einer Entfernung mit energiereicher Strahlung beschossen. Die Bestrahlung kommt nur lokal zum Einsatz und kann das Wachstum des Tumors bremsen, indem die Tumorzellen zerstört werden.
Es handelt sich um einen jungen Therapieansatz, auch "targeted therapy" (zielgerichtete Therapie) genannt. Hierunter fällt die in der US-Studie erforschte Blockierung des Ral-Proteins. Spezifische Wirkstoffe sollen zielgenau die Krebszellen angreifen.
Hierbei werden Antihormone gegeben. Sie können vor allem Tumoren der Geschlechtsorgane und Brustkrebs im Wachstum stoppen oder verlangsamen.
Hierunter versteht man die Überwärmung des Körpers oder einzelner Körperteile. Dies kommt beispielsweise ergänzend zu einer Strahlentherapie zum Einsatz, und kann ihre Wirkung verstärken.
In Europa und USA waren die Behörden bei ähnlichen Konzepten lange nicht überzeugt, dass der Nutzen der Therapie deren Risiken überwiegt. Denn es ist erfolgversprechender, eine bisher unheilbare Erbkrankheit zu behandeln, die durch einen einzelnen Gendefekt verursacht wird, als Krebs, bei dem häufig mehrere Gene eine Rolle spielen. Zudem können Ärzte heute schon gegen Tumore mit Chemotherapie, Bestrahlungen und Operationen vorgehen.
Diese traditionellen Behandlungen mit der modernen Gentherapie zu kombinieren ist möglicherweise der beste Weg. Erbanlagen, die an der Krebsentstehung beteiligt sind, gibt es genug. Zwei Drittel aller Gentherapieversuche am Menschen richten sich daher derzeit gegen dieses Leiden. Dabei verfolgen viele Forscher das Ziel, das Abwehrsystem des Körpers auf die Krebszellen aufmerksam zu machen, um diese zu entlarven und zu zerstören. Denn Krebszellen sind perfekt darin, sich als harmlose Körperzellen zu tarnen.
Geradezu genial wäre es, mittels Gentransfer typische Altersleiden zu bekämpfen, etwa den Abbau von Nerven. Zumindest bei der Parkinson-Erkrankung mit ihrer Schüttellähmung laufen schon mehrere Studien – auch bei Uniqure. Der Plan: Eine ins Gehirn gespritzte Genfähre soll die Produktion eines fehlenden Botenstoffs anregen. Wie wirksam so eine Therapie auf Dauer ist, muss sich aber erst zeigen.
Das vor einem guten Jahr gegründete US-Start-up Voyager Therapeutics hat bereits erste Parkinson-Patienten behandelt. Im Februar stieg hier der französische Pharmakonzern Sanofi ein und schloss einen Deal im Wert von 845 Millionen Dollar ab.
Selbst die Todesursache Nummer eins, die Herz-Kreislauf-Leiden, glauben die Gentherapeuten bekämpfen zu können. Knapp acht Prozent aller Gentherapiestudien beschäftigen sich bereits damit, die lebenswichtige Blutpumpe wieder fit zu bekommen. So will die kalifornische Celladon den Kalziumhaushalt im Herzmuskel so regeln, dass die Zellen besser und stärker arbeiten können. Denn bei der weitverbreiteten Herzschwäche pumpt der – oft nach einem Infarkt – geschädigte Muskel nur noch mit halber Kraft. Celladons Versuche am Menschen sind bereits weit fortgeschritten.
Auch Uniqure heilt Herzen, wenn auch erst beim Schwein. Dort aber sehr erfolgreich, sagt Aldag, der das Verfahren bald am Menschen erproben will. Die neue Konkurrenz sieht er ganz positiv, denn sie belegt für ihn: „Das Zeitalter der Gentherapie hat gerade erst begonnen.“