Emotionale Bindung Arbeitssucht und Überidentifikation: Wie mehr Distanz zum Job gelingt

Quelle: imago images

Mit den Gedanken ständig beim Job sein, wenig Erholung in der Freizeit: Eine Arbeitspsychologin erklärt, was es mit Überidentifikation im Job auf sich hat – und was sie Klienten rät, um mehr Distanz zu gewinnen.

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Frau Scheel, eine jüngst veröffentlichte Studie zeigt: Jeder zehnte Beschäftigte ist arbeitssüchtig. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Überidentifikation und Arbeitssucht?
Tabea Scheel: Überidentifikation mit dem Job kann eine gute Grundlage sein, um arbeitssüchtig zu werden. Aber es gibt nicht per se eine Kausalität. Also: Man kann arbeitssüchtig sein, ohne generell überidentifiziert zu sein. Weil jemand vielleicht nichts anderes hat im Leben außer seinen Job. Aber umgekehrt kann man auch sehr hoch identifiziert sein, ohne gleich in Arbeitssucht zu verfallen.

Sie arbeiten als Coachin: Wissen ihre Klientel eigentlich schon, dass sie emotional zu eng mit ihrem Job verbunden sind? Wie findet man das heraus?
Ich würde eine Person zuallererst fragen, ob sie sich mit dem Arbeitgeber identifiziert oder mit dem Job oder mit der Position, die sie innehat. Denn das macht einen Unterschied. Am ehesten identifizieren sich Menschen mit ihrem Beruf selbst. Oft ist es so, dass Beschäftigte an ihrem Job hängen und ihn sehr gerne ausüben. Und dann ist es häufig ein Problem, sich abzugrenzen, obwohl man ja für die eigene Arbeit brennt. Und ein großes Thema ist oft mangelnde Wertschätzung: Jemand macht den Job gerne, aber die Bedingungen sind schlecht.

Am Job zu hängen und ihn gern auszuüben ist ja etwas Gutes.
Das ist in der Regel sogar total gut! Erstmal, überhaupt einen Job zu haben und dann noch etwas zu tun, das sinnstiftend ist: Weil es Spaß macht, weil es eine Bedeutung hat. Wenn sich jemand mit seinem Beruf identifiziert, ist die Person motivierter und engagierter. Muss jemand täglich Dinge tun, mit denen sie oder er sich nicht identifiziert, kann dies sehr stressen und auch krank machen.

Zur Person

Wenn sich jemand nun mit dem Job überidentifiziert, birgt das gesundheitliche Risiken. Welche können das sein?
Die häufigste Auswirkung ist erstmal schlichtweg, dass jemand zu viel arbeitet und auch in der Freizeit an die Arbeit denkt. Arbeit ist praktisch die Priorität im Leben, alles andere ordnet sich unter. Das führt dann häufig dazu, dass sich die Leute schlecht erholen. Außerdem vernachlässigen sie Sozialkontakte außerhalb des Arbeitslebens. Es gibt Statistiken, die zeigen, dass Personen, die lange Zeit über etwa 50 Stunden wöchentlich arbeiten, ein stark erhöhtes Risiko für beispielsweise Herzinfarkt und Schlaganfall haben. Wenn der Körper verlernt hat, sich zu erholen, wird es irgendwann schwierig. Das sind dann Personen, die im Urlaub umkippen. Aber da sind wir schon bei einem sehr hohen Arbeitspensum. Häufig können sich Führungskräfte schwer abgrenzen. Wer Personal verantwortet, muss oft lernen, weniger zu arbeiten.

Dann arbeiten Sie meistens mit Führungskräften zusammen?
Sehr häufig, denn die sind ja oft in einer Sandwichposition und Anforderungen drücken von oben und unten auf sie ein – und dann fällt es ihnen schwer, sich zu erholen. Sie sind einerseits nicht autonom genug, um bestimmte Entscheidungen zu treffen, weil sie vom Management Vorgaben bekommen. Andererseits haben sie ihr Team und müssen diese Vorgaben durchsetzen. Die werden oft ganz schön aufgerieben in dieser Position. Die fragen dann häufig, wie sie abschalten und sich erholen können. Und sie müssen lernen, zu delegieren.

Gibt es weitere Faktoren, die es begünstigen, sich zu eng an die Arbeit zu binden? Wenn jemand einfach viel arbeitet, mit einem hohen Arbeitsethos sozialisiert wurde – oder bestimmte Branchen?
Alle genannten Dinge stimmen. Gerade wenn Menschen für Menschen verantwortlich sind, neigen sie dazu sich zu überidentifizieren. Beispielsweise in sozialen Berufen oder im Gesundheitswesen, wobei es bei Letzterem oft weniger die Überidentifikation ist, sondern die schlechten Arbeitsbedingungen. Schlecht loslassen können außerdem Perfektionisten. Und Selbstständige laufen auch Gefahr, sich übermäßig selbst auszubeuten.

Acht Tipps zum Stressabbau

Wie kann man denn selbst herausfinden, ob man sich selbst zu sehr über den Job identifiziert?
Zuerst sollte man reflektieren, wie es einem im Beruf geht – und woran es liegen könnte, wenn es einem nicht gut geht. Ist es zu viel Arbeit? Kann ich nicht abschalten? Kann ich im Job was ändern, mehr Grenzen einziehen? Liegt es auch an der eigenen Führungskraft? Fehlt mir Wertschätzung? Könnte es helfen, den Job zu wechseln? Und man sollte sich Gedanken darüber machen, ob es genug alternative Identitäten gibt, aus denen man Selbstwert ziehen kann. Wir bestehen ja aus verschiedenen Identitäten. Das kann die Rolle als Partnerin, Vater, Golferin oder Chorsänger sein.

Welchen Tipp haben Sie, wenn jemand kaum andere Identitäten hat?
Man könnte dann versuchen, andere Interessen zu stärken und sich dafür Freiräume zu schaffen. Ob man nun Spazieren geht, einen Tanzkurs besucht oder ein Handwerk lernt: Wichtig ist es, abzuschalten. Im Extremfall kann das bedeuten, dass man sich den Sonntagvormittag freinimmt, statt wie sonst zu arbeiten. Ich frage Klientinnen und Klienten oft: Wenn Sie in 20 Jahren in den Ruhestand gehen – was machen Sie dann eigentlich? Und was soll auf Ihrem Grabstein stehen – Sie haben viel gearbeitet? Oder sollen da auch noch ein paar Leute zusammenkommen, die tatsächlich bemerkt haben, dass Sie gestorben sind? Das ist natürlich überzeichnet! Aber es gibt Personen, die bekommen bei diesen Fragen Schnappatmung.

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Immer wieder geraten Unternehmen ins Licht der Öffentlichkeit, weil sie sich zweifelhaft verhalten. Gerade steht das Medienhaus Axel Springer im Fokus, aber auch der Autozulieferer Brose sorgte jüngst für Aufmerksamkeit: In einer Mitteilung anlässlich der Jahreszahlen bemängelte die Geschäftsführung fehlende Motivation der Mitarbeiter. Was machen solche Vorfälle mit Beschäftigten, die sich stark mit ihrem Unternehmen identifizieren?
Die kommen nach außen oft in die Zwangslage, ihre Arbeitgeber oder Organisationen zu verteidigen. Aber nach innen kann es zu einem sogenannten psychologischen Vertragsbruch kommen, so heißt es in der Psychologie. Es entsteht eine Dissonanz im Kopf: Ich arbeite hier, habe Werte, verhalte mich loyal, habe eigentlich eine gute Meinung – und der Arbeitgeber verhält sich unethisch und vertritt Werte, hinter denen ich nicht stehe. Dass kann Beschäftigte von ihren Arbeitgebern entfremden und sie total demotivieren – es ist für Menschen einfach sehr schwer auszuhalten.

Ist Identifikation eigentlich ein Generationsthema? Junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten als illoyal, wechseln Berufsprofil und Arbeitgeber mit Leichtigkeit.
Das ist schwer zu sagen. Zehn Jahre später haben diese Beschäftigten vielleicht Familien gegründet, Immobilien und ein zweites Auto gekauft und denken völlig anders über ihre Situation. Und die Bedingungen für Menschen am Anfang ihres Berufslebens sind eben anders als von älteren Generationen, heutzutage bekommen sie zudem durch den Fachkräftemangel viele Möglichkeiten. Interessant dabei ist, wie sich Unternehmen verhalten – sie bieten ganz viel Homeoffice an, um junge Beschäftigte anzulocken. Wer nur im Homeoffice arbeitet, ist allerdings weniger ans Unternehmen gebunden, nicht so „committed“. Zuviel Homeoffice macht also ganz schön viel kaputt.

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Warum spielt die Erwerbsarbeit für viele überhaupt so eine große Rolle, wenn es um den Selbstwert geht?
In unserer Gesellschaft liegt ein sehr großer Fokus auf Arbeit. Es gibt historisch eine Wurzel in der protestantischen Arbeitsethik, dass man sich im Prinzip über seine Arbeit definiert – wer arbeitet, ist gottgefällig. Und wir messen gesellschaftlich sehr stark den Wert einer Person daran, was sie arbeitet und ob sie überhaupt arbeitet. Deswegen stigmatisieren wir auch Erwerbslose. Arbeit bestimmt also auch stark den Status. Zudem verbringen wir einfach viel Zeit mit Erwerbsarbeit, sie bestimmt die Tagesstruktur und wir haben dort Sozialkontakte und bekommen im besten Fall Anerkennung. Arbeit verändert auch die Persönlichkeit: Wir bekommen vielleicht mehr Selbstwert, lernen neue Dinge und auch etwas über unsere Fähigkeiten.

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