"Frau Müller muss weg!" Lass doch der Jugend ihren Lauf

Sönke Wortmanns neuer Film trifft den Nerv der Zeit: Eltern und Schulkinder drehen vor Angst um ihre Wettbewerbsfähigkeit völlig durch - und toben ihre Panik an den Lehrern aus.

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Eltern kleiner Kinder sollten an einem der nächsten Abende unbedingt einen Babysitter organisieren. Denn im Kino läuft jetzt ein besonders sehenswerter Film speziell für sie. „Frau Müller muss weg!“ heißt er. Bei Regisseur Sönke Wortmann („Der bewegte Mann“, „Das Wunder von Bern“) gibt es viel zu lachen, aber sein Thema ist höchst brisant.

Drei Frauen und zwei Männer mittleren Alters treffen sich an der Grundschule ihrer Kinder mit deren Klassenlehrerin, Frau Müller (Gabriela Maria Schmeide), zum Elternabend. Die „Mama von Fritz“ (Alwara Höfels) hat für Müller einen Blumenstrauß dabei. Doch das ist die einzige Freundlichkeit. Die resolute „Mama von Laura“ (Anke Engelke in Bestform!) kommt schnell zur Sache. Frau Müller soll die Klasse abgeben, weil die Eltern kein Vertrauen mehr in „Ihre pädagogischen Fähigkeiten“ hätten. Vielleicht habe sie ja ohnehin einen Burnout, assistiert der „Papa von Lukas“ (Ken Duken), dessen Frau vor Sorge um den armen, ausgegrenzten, aber zweifellos hochbegabten Lukas stets den Tränen nah ist.

Die Länder mit den glücklichsten Schülern
Blick auf die isländische Hauptstadt Reykjavik Quelle: dpa
KasachstanDas zentralasiatische Steppenland steht nicht gerade für ein leistungsfähiges Schulsystem. Bei der Lesekompetenz schneiden die 15-jährigen Kasachen miserabel schlecht ab, untertroffen nur von Katar und Peru.  Doch sie sind umso glücklicher in ihren Schulen. Quelle: REUTERS
Eine Schülerin tanzt auf einer Parade am Independence Day in San Jose Quelle: REUTERS
Eine Frau schwenkt die Nationalflagge Mexikos Quelle: dapd
Schüler in Malaysia Quelle: dpa
Schüler in Kolumbien Quelle: dpa
Schüler in Thailand Quelle: dpa

Die Pädagogik, das ist längst klar, interessiert die Eltern nur deshalb, weil ihre Kinder in die vierte Klasse gehen und möglicherweise wegen zu schwacher Noten nicht den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen. Diese Aussicht macht die Mamas und Papas panisch. „In drei Monaten gibt’s Übergangszeugnisse. Dann hat diese unfähige Kuh unsern Kindern endgültig die Zukunft versaut“, echauffiert sich der „Papa von Janine“ (Justus von Dohnanyi).

Müller platzt daraufhin der Kragen. Sie eröffnet den staunenden Eltern einige unbequeme Wahrheiten über den Nachwuchs: Lukas zum Beispiel ist kein ausgegrenzter Hochbegabter, sondern trotz Mamas Tofu-Würstchen ein prügelnder Rabauke. Wutentbrannt verlässt sie das Klassenzimmer. Doch sie hat ihre Tasche vergessen - inklusive der Notenliste - und die Eltern wollen ihren Abschuss unbedingt schnell hinter sich bringen. Bei der Suche nach Frau Müller lernen die Eltern sich nun gegenseitig allzu gut kennen. Und als Frau Müller dann zurückkommt, endet der Abend ganz anders, als er gedacht war.

Was Wortmann im Stil eines Kammerspiels aufführt – der Film ist eine Adaption des gleichnamigen Theaterstücks von Lutz Hübner und spielt nahezu in Echtzeit fast ausschließlich innerhalb der Grundschule  – , ist ein authentisches Sittengemälde der Elternschaft im Zeitalter der PISA-Ideologie. Die Schule als Brennpunkt, an dem sich die übersteigerten Ängste moderner Eltern in der Wettbewerbsgesellschaft bündeln. Haltloser Menschen, deren einzige Gewissheit zwischen zerbrechlichen Liebesbeziehungen und drohendem Burnout die fanatische Sorge um die Zukunft des eigenen Kindes ist.

Besorgte Mamas beim Schulleiter

Auch wenn nicht jeder Elternabend derart explosiv aufgeladen ist, wie der bei Frau Müller: Der Film ist so nah an der Lebenswirklichkeit, wie ein Film nur sein kann. Und er ermöglicht unmittelbare Identifikation für Millionen von Müttern und Vätern. Da ist die Karrierefrau, die alles im Griff zu haben glaubt; die psychisch labile Mutter, die ihr einziges Kind überbehütet; ihr von der Ideologie des wirtschaftlichen Wettbewerbs durchdrungener Ehemann; der sorgenzerfressene, unglücklich verheiratete Arbeitslose, der sich an sein Kind klammert; die Alleinerziehende, deren Sohn in der Schule perfekt funktioniert, aber keine Nähe zu ihr zulässt.

Wer selbst Kinder hat, erkennt sich in diesen Eltern oder kennt zumindest andere Eltern die so sind, wie die, die Frau Müller weg haben wollen. Tausende Frau Müllers müssen sich alltäglich mit solchen Eltern herumschlagen. Der Leiter der Schiller-Grundschule in Stuttgart schrieb kürzlich einen Brandbrief, der bundesweit Aufsehen erregte: „So erleben wir täglich, wie viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, verkehrswidrig und häufig gefährlich an der Kreuzung vor dem Haupteingang der Schule parken, Kind und Schulranzen ausladen, den Ranzen teilweise bis ins Klassenzimmer tragen, dem Sohn oder der Tochter die Jacke abnehmen, helfen die Hausschuhe anzuziehen und dann noch die Gelegenheit nützen, die unterschiedlichsten Dinge mit der Klassenlehrerin zu besprechen. Und all dies nicht selten nach Beginn des Unterrichts um 7.45 Uhr.“ Als Anlass für den stark zugenommenen Gesprächsbedarf der Eltern reiche es schon, wenn das Kind eine "zwei" bis "drei" in der Mathematikarbeit nach Hause gebracht habe.

Das Gros der Eltern sei zwar immer noch vernünftig und kooperativ, sagt Josef Kraus, Präsident des Lehrerverbands und selbst Schulleiter. Aber es gebe tatsächlich immer mehr Eltern, die fordernd und offensiv gegenüber Lehrern auftreten. „Ich hatte auch schon mit Initiativen von Elterngruppen zu tun, die mich als Schulleiter bedrängten, eine bestimmte Lehrkraft nicht in eine Klasse zu tun, oder durch eine andere zu ersetzen.“

Auch wegen angeblich ungerechtfertigt schwacher Noten stünden schon mal unvermittelt „sechs Mamas und ein Papa auf der Matte“. Der betreffende Lehrer, wird dann geklagt, „könne nicht gut erklären, sei schlecht vorbereitet, habe keine Disziplin oder überfordere die Kinder“.

Kraus sieht das Phänomen dieser überbehütenden „Helikoptereltern“ als Folge einer seit Jahren von Bildungspolitikern und Organisationen wie OECD und Bertelsmann-Stiftung verbreiteten unterschwelligen Botschaft: Erst mit Abitur ist man ein akzeptabler Mensch und unterhalb eines Studienabschlusses hat man im globalen Haifischbecken überhaupt keine Chance. „Diese Propaganda, die mittlerweile von allen Parteien mitgetragen wird, hinterlässt natürlich Spuren bei den Eltern.“

Sie verkennen dadurch auch, dass die Zukunft eines Kindes keineswegs, wie Janines Papa zu wissen meint, „versaut“ ist, wenn es nicht aufs Gymnasium kommt, und dass gerade dank der nicht-universitären Ausbildungsgänge im Dualen System Deutschland eine besonders niedrige Arbeitslosenquote im Vergleich zu anderen Ländern hat.

Das wahre Leben und der dumme Naina-Tweet

Unter dem medialen Dauerbeschuss dieser PISA-Panik-Propaganda verlieren Eltern jegliche Gelassenheit im Verhältnis zur Schullaufbahn ihrer Kinder. Angeheizt wird die Angst noch durch Elternratgeber, private Förderinstitute und Websites wie die „Lernplattform“ www.scoyo.de. Die hat eine Forsa-Umfrage in Auftrag gegeben, wonach ein Viertel der Mütter und Väter glauben, dass die „individuelle Förderung“ (die Wundermedizin der Bildungsökonomie) an den Schulen unbefriedigend sei.

„Immer mehr Mütter und Väter nehmen das Heft selbst in die Hand“, jubelt man bei scoyo. „Der Umfrage zufolge können sich insgesamt 83 Prozent aller befragten Eltern vorstellen, ihre Kinder mit zusätzlichen Lernangeboten zu unterstützen. Bei den Eltern sehr guter Schüler sind es sogar 86 Prozent.“ Angst ist bekanntlich ein guter Treibstoff für Geschäfte.

Was vielleicht noch trauriger ist als panische Eltern: Auch die Kinder selbst sind völlig verunsichert. Eine 18-jährige Twittererin, die sich Naina nennt, bekundete vor einigen Tagen ihr Unbehagen daran, dass sie in der Schule nichts über „Steuern, Miete und Versicherungen“ gelernt habe, sondern „Gedichtanalyse“. Naina beklagt, dass sie in der Schule nicht lerne, „wie man auf eigenen Beinen steht“.

Mit diesem Post hat Naina im Internet und in der Boulevardpresse eine Lawine an Aufmerksamkeit ausgelöst. Offenbar fühlen sich ganz viele Menschen in ihren Ängsten bestätigt, dass die Schulen alles falsch machen und nicht auf das Haifischbecken vorbereiten, das das wahre Leben ist. Naina sagt nun, dass sie den Hype nutzen will, um das Schulsystem zu „verbessern“. 14 Jahre PISA-Panik-Propaganda sind offensichtlich auch an den Schülern nicht spurlos vorbeigegangen.

Der einzig angemessene Kommentar stammt von Nainas Schulleiterin: „dumm und fahrlässig“. Man mag dem Mädchen den unreifen Unsinn angesichts ihres Alters verzeihen. Aber traurig ist, dass offensichtlich viele Tausend erwachsene Menschen in Sachen Schule ebenso verunsichert und haltlos sind wie das Mädchen.

Das Gezwitscher zum Thema erinnert nicht zufällig an die Eltern im Film. Nicht nur Frau Müller, sondern das ganz Schulsystem mit seinen angeblich überkommenen Vorstellungen von Bildung genießt kein Vertrauen mehr. Das ist der traurige Erfolg von 14 Jahren Bildungspolitik im Zeichen von PISA und Employability.

Naina und den besorgten Eltern kann man derweil nur zurufen: Ohne Gedichte und andere unnütze Dinge, die man in der Schule glücklicherweise noch lernt, wäre das Leben nicht lebenswert. Und deswegen machen uns Lehrer in der Schule mit diesen Bildungsinhalten bekannt, weil viele Eltern es nicht können. Steuern, Miete und Versicherungen sind gerade nicht das Leben, sondern Alltag. Wie man den bewältigt und auf eigenen Beinen steht, lernt man noch früh genug und am besten nicht in der Schule. Manchmal kann man sogar seine Eltern fragen.

Wohltuend und befreiend spielen Hübner und Wortmann mit ihrem Film gegen das Panik-Orchester der Bildungsdebatte an. Ihre frohe Botschaft klingt schon zum Vorspann mit einem alten, sehr klugen Volkslied an, das dann als Rap erneut zum Abspann läuft: „Lass doch der Jugend ihren Lauf“.

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