Die jungen Männer und Frauen stehen brav aufgereiht in langer Reihe, eingezwängt in schwarze Talare. Gehorsam lauschen sie, wie ihnen ein kahlköpfiger Mann auf der Bühne das Evangelium liest. „Das kapitalistische System muss dringend repariert werden – es ist unsere Aufgabe, Vertrauen wieder herzustellen und den Wohlstand zu teilen.“ Die Menge nickt andächtig.
Handelt es sich hier um ein Treffen der Globalisierungskritiker von Attac oder gar eine Mitgliederversammlung des Schwarzen Blocks, der gerade erst dem Kapitalismus beim G20-Gipfel in Hamburg die Scheiben eingeworfen hat?
Per Uber zur Abschlussfeier mit Champagner-Empfang
Erst der zweite Blick offenbart, dass bei dieser Messe eher Mammon im Mittelpunkt steht. Die weißen Zelte, um die die Talarjünger stehen, sind auf einen gepflegten Tennisplatz gepflanzt. Schilder weisen zu einem Stand des Fahrdienstes Uber, mit dem sich die An- und Abreise bequem organisieren lässt. Die Gebäude ringsum tragen Namen wie „Bloomberg“ oder „Morgan“. Und schon während der Rede laufen die Vorbereitungen für den anschließenden Champagnerempfang.
Das Talartreffen ist die Abschlussfeier 2017 der Harvard Business School (HBS), und deren Religion lässt sich seit 109 Jahren mit einem Wort umschreiben: Geld.
So viel kosten MBA-Programme an den Top-Business Schools
28 der 500 nach Börsenwert größten Konzerne werden von einem Harvard-Alumnus geführt. Das MBA-Studium dauert zwei Jahre, die Kosten liegen pro Jahr bei etwa 98.400 Dollar.
Sie gilt als beste europäische MBA-Adresse. Studenten wählen zwischen einem 15-, 18- und 21-monatigen Programm, im zweiten Jahr können sie Teilzeit arbeiten. Interessant für alle, die vom Arbeitgeber gesponsert werden. Das Programm kostet umgerechnet etwa 94.000 Euro.
Sie hat mit 93.000 Absolventen aus 153 Ländern das größte Netzwerk, ist bekannt für den Finanzschwerpunkt. Das 20-monatige Programm kostet pro Jahr etwa 100.000 Dollar.
So stark ist diese Religion, dass in den USA eine Debatte tobt, ob die scheinbar so braven Talarträger vielleicht die gefährlichsten Menschen des Planeten sind – Anhänger einer Irrlehre, die die kapitalistische Welt regiere und ruiniere. Nicht weniger als 64 Milliardäre hat die HBS hervorgebracht.
Fitness-Studio, Tiefgarage, Poststelle - nur das Beste für die Besten
Die aktuelle Klasse hat für zwei Jahre Studium bis zum Master of Business Administration (MBA) mehr als 200.000 Dollar gezahlt. Dafür locken Einstiegsgehälter, die um ein Vielfaches höher liegen. In der Mensa kann man zwischen Coq au Vin oder Sushi wählen, ein Glas Wein dazu? Wo andere Unis eine Turnhalle haben, stellt die HBS ein Fitnessstudio zur Verfügung, das problemlos in ein Four Seasons Resort passen würde.
Haben sie eine Freistunde, müssen die Studierenden nicht auf dem Gang lungern, sie können dies in bequemen braunen Ledersofas tun, vor gasbefeuerten Kaminen. Damit niemand seine wertvolle Zeit auf dem Weg zum Briefkasten verschwenden muss, gibt es eine eigene Poststelle, natürlich genau wie eine Tiefgarage, die vielen BMW, Daimler, Tesla müssen ja irgendwo bleiben.
Es ist ein Sehnsuchtsort. Selbst wer nur ein paar Fortbildungskurse an der HBS verbringt, vermerkt das in seinen Lebenslauf. Sogar wer Michael Bloomberg, Sheryl Sandberg oder George W. Bush heißt, wird in seinem Nachruf ganz sicher stehen haben: Harvard-MBA.
Top-Terrorziel oder goldene Eintrittskarte?
Aber die Schule weckt auch andere Leidenschaften. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde die HBS von den Behörden als Top-Terrorziel eingestuft. Feinde des Westens sähen sie als Keimzelle des verhassten Turbokapitalismus.
Warum denn bloß?, so wirkt die Stimmung bei der Abschlussfeier. „Wir bilden Führer aus, die in der Welt einen Unterschied machen wollen“, versichert der glatzköpfige Mann auf dem Podium, er heißt Nitin Nohria und ist der aktuelle HBS-Dekan. Es gehe nicht darum, nur Menschen auszubilden, die am meisten Geld machen wollten. Nohria erhält ein Jahresgehalt von knapp einer Million Dollar und verwaltet ein HBS-Vermögen in Höhe von 3,3 Milliarden Dollar.
Deswegen glaubt ihm Duff McDonald kein Wort. McDonald ist ein drahtiger Mann mit Dreitagebart. Er hat selbst eine renommierte Business School absolviert, aber es zu seinem Beruf gemacht, sich mit Institutionen des Kapitalismus anzulegen, in Büchern über berühmte Investmentbanken oder den Beratungsgiganten McKinsey. Doch keines hat so viel Aufsehen erregt wie sein aktuelles Werk über die Harvard Business School: „The Golden Passport“.
Auch wenn McDonald am Tag der Abschlussfeier in New York sitzt, ist er auf dem Campus sehr präsent. Glaubt man McDonald, handelt es sich bei der HBS nämlich nicht um eine Anstalt zur Verbreitung wirtschaftlich-moralischen Sachverstandes, sondern um die Kathedrale einer höchst gefährlichen Weltreligion: mit Professoren als einer Art Hohepriester, die ihre Jünger in die Welt entsendeten, um diese zu verbreiten – und anzuwenden.
HBS Schuld an Trump?
Laut McDonald ist die HBS so gut wie an allem schuld, was schiefläuft im globalen Kapitalismus. Zum Beispiel die Abhängigkeit von überbezahlten Beratern mit dubiosen Erfolgsrezepten – denn McKinsey habe die Schule und deren Dozenten mit satten Honoraren bestochen. Rücksichtslose Absolventen hätten außerdem die Zockerei in Investmentbanken vorangetrieben und die Weltfinanzkrise verursacht – genau wie den Irakkrieg (Absolvent George W. Bush!) und irgendwie auch das Trump-Trauma. Denn erst weil HBS-Leute den Kapitalismus ruinierten, sei die Wut einfacher Amerikaner so gewachsen, dass sie einen Clown ins Weiße Haus wählten.
Vor allem arbeitet sich der Autor an einem Mann ab, der schon lange nicht mehr auf dem Campus zu sehen ist: Michael Jensen. Ende der Achtzigerjahre wurde er ordentlicher HBS-Professor, doch was er predigte, sprengte alle Vorstellungen von ordentlichem Kapitalismus. Bis dahin galt: Firmenchefs sollten auch an die Stakeholder denken, die Arbeitnehmer, die Kunden, gar die Gemeinschaften, in deren Umfeld man Geschäfte macht.
Michael Jensen sagt: Worauf es ankommt, ist Shareholder-Value
Alles Unsinn, der sich nicht rechne, sagte Jensen. Es gehe einzig um die Shareholder, die Anteilseigner, und um deren Gewinn. Wenn etwa feindliche Übernahmen diesen hochtrieben, sei alles gut, selbst wenn dafür Tausende Menschen ihren Arbeitsplatz verlören oder es ganze Stadtteile zerreiße. Die Religion des Shareholder-Value war geboren, und sie fand unverzüglich jede Menge Jünger. Erst auf dem HBS-Campus, dann in den Chefetagen. 1992 betrug das Durchschnittseinkommen des Vorstandsvorsitzenden eines US-Konzerns 2,7 Millionen Dollar. Acht Jahre später lag es bei 14 Millionen. Vor 50 Jahren wurde Amerikas Bossen 20 Mal so viel bezahlt wie Durchschnittsarbeitnehmern. Heute ist es 354 Mal so viel. Shareholdervalue sei wie Heroin für Manager, sagt McDonald.
Die Absolventen an diesem verregneten Donnerstag in Cambridge wirken entsprechend aufgekratzt. Sie müssen sich ja auch nicht gegen die Kritik verteidigen, das erledigt für sie jener glatzköpfige Mann, der gerade noch so eloquent über das Wahre, Schöne und Gute geredet hat. „Alles Böse in der Gesellschaft auf der HBS abzuladen, kommt mir doch ziemlich übertrieben vor“, sagt er kühl. Nohria hat, natürlich, Zahlen zur Verteidigung seiner Schule parat: Absolventen hätten weltweit rund elf Millionen Arbeitsplätze geschaffen – und 2,4 Billionen Dollar Umsatz.
Kurse mit moralischem Anspruch an der HBS?
Außerdem: Die Schule biete ja keineswegs nur Kurse zu Bilanzen oder Übernahmetechniken, sondern auch zu Ethik und moralischer Führung. Zudem gebe es Case Studies – so heißen die legendären Fallstudien, die Grundlage für Unterrichtsstunden sind –, in denen Versäumnisse von Managern etwa in der Weltfinanzkrise aufbereitet würden.
Aber spricht man auf dem Campus über HBS-Kurse mit moralischem Anspruch, lachen einige. Oft gelten diese als fluffy, als wenig anspruchslos und kaum von Nutzen zum Geldverdienen. „Lernt man da, wie man eine Bilanz durchpflügt?“, fragt ein Student. Und wie glaubhaft können die Schulbosse wirklich über Selbsteinsicht dozieren, etwa zur Rolle in der letzten Weltfinanzkrise?
Als die Krise in den USA losbrach, regierte die HBS das Land. George Bush (Abschlussklasse von 1975) saß im Weißen Haus, Finanzminister war Hank Paulson (1970), die Börsenaufsichtsbehörde leitete Christopher Cox (1976). Auch an der Spitze vieler Investmentbanken standen Ehemalige.
Selbstkritik? Nein, danke.
Hätte man da nicht erwarten können, dass die HBS bei ihrer 100-Jahr-Feier im Oktober 2008 etwas Selbstkritik übt? Von wegen. Der damals amtierende Dekan sagte zwar, es laufe gerade viel schief in der Weltwirtschaft. Aber: „Wir werden die Frage, wer schuld war, anderen überlassen.“ Diese Frage sei schlicht nicht so interessant.
Peter Escher schüttelt darüber den Kopf. Escher (MBA 2009) arbeitet mittlerweile für eine Investmentfirma, aber nach der Weltfinanzkrise war er Geschäftsführer einer Non-Profit-Organisation, die MBA Oath heißt, MBA-Schwur.
Hippokratischer Eid für Manager
Sie wollte erreichen, dass Absolventen folgenden Eid schwören: „Als Manager ist es mein Ziel, einem höheren Gut zu dienen. Ich werde mit höchster Integrität handeln.“ Ein Gelübde wie der Eid des Hippokrates, dem die Ärzteschaft verpflichtet ist. Sätze, die man bisher selten von den Masters of the Universe gehört hatte. Aber deren Versagen in der Finanzkrise war ja auch einmalig gewesen.
Hunderte Absolventen der rund 900 Studenten starken HBS-Abschlussklasse, zu der Escher gehörte, schworen den Eid. Doch heute ist davon kaum noch die Rede. Escher musste feststellen, dass einer seiner HBS-Lehrer doch recht behalten hatte. Der hatte ihm gesagt, Wall-Street-Händler seien wie Raubtiere. „Wirft man ihnen Fleisch vor, stürzen sie sich darauf.“
Der MBA-Eid ist Geschichte, die MBA-Geldmaschine boomt weiter. Zu verlockend ist das Netzwerk der Turbokapitalisten. Die HBS-Alumnigruppe umfasst aktuell rund 46.000 Absolventen weltweit, in Deutschland etwa Adidas-Chef Kasper Rorsted. Es ist auch ein Netzwerk der Selbstvergewisserung: Wer immer jemanden findet, der bei Hedgefonds oder Risikokapitalgebern noch mehr verdient, dem erscheint das eigene hohe Gehalt nicht mehr obszön.
„Ohne zu werten: Ob bei Professoren oder Studenten, Geld ist hier einfach viel wichtiger als an anderen Universitäten“, sagt Gregor Schubert. Der gebürtige Ostdeutsche forscht als Doktorand an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Management. Er macht sich Gedanken über die Rolle von Universitäten – und ist sich nicht sicher, ob für eine Non-Profit-Organisation wie die HBS, die aber Profit auf dem Lehrplan stehen hat, moralische Maßstäbe passen.
Zumal selbst die stolze Hochschule um ihr Geschäftsmodell bangen muss. Das MBA-Geschäft ist bedroht, durch neue Schulen in Asien, durch die digitale Revolution. Soll man Kurse kostenlos online stellen, wie viele andere Unis? Darüber mache man sich an der HBS gerade viele Gedanken, sagt Schubert.
Und: Hilft es dem Geschäft, über eigene Fehler oder die des Kapitalismus laut nachzudenken? Das mögen Unternehmen ja auch nicht, schon um Kunden nicht zu verschrecken. Daher könnte sich eine HBS-Kulturrevolution schlicht nicht rechnen.
An dem Tag, an dem die Raubtiere in spe verabschiedet werden, spricht ein paar Hundert Meter weiter am Harvard College Mark Zuckerberg, Der Facebook-Gründer schmiss sein Harvard-Studium, jetzt erhält er einen Ehrendoktor. Dafür trägt Zuckerberg sogar blauen Anzug mit Krawatte. Er zitiert John F. Kennedy und spricht über Fabrikarbeiter, deren alte Jobs nicht wiederkommen. „Wir müssen Gleichheit neu definieren“, sagt er. „Wir müssten Gemeinschaften um die ganze Welt aufbauen.“
Später reden zwei HBS-Männer über Zuckerbergs Rede. Er hört sich an wie ein Politiker, sagt der eine, es klingt nicht wie ein Kompliment. Aber er habe auch Konkurrenten systematisch kleingehalten, erwidert der andere, rücksichtslos und hart. Es klingt anerkennend, es klingt wie: Zuckerberg ist doch einer von uns. Ein Raubtier halt.