Inklusion in Deutschland Behinderte Kinder gehen kaum aufs Gymnasium

Beim gemeinsamen Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten gibt es Fortschritte, allerdings nicht auf allen Bildungsstufen. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sind noch große Anstrengungen nötig.

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Schüler mit und ohne Rollstuhl verfolgen in der Förderschule am Donnersberg in Rockenhausen den Unterricht. Quelle: dpa

Die Kettelergrundschule in Bonn ist etwas Besonderes. Hier werden die Schüler jahrgangsübergreifend unterrichtet. Der Anfänger in der 1. Klasse lernt gemeinsam in einer Gruppe mit den Viertklässlern. Damit aber nicht genug. Die Schule treibt das Thema Inklusion bereits seit 2006 intensiv voran. Zu dieser Zeit war die Forderung nach gemeinsamem Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern noch lange nicht in der öffentlichen Diskussion. Erst seit 2009 gilt in Deutschland eine entsprechende UN-Vereinbarung.

Mittlerweile wird die auch konsequent umgesetzt - trotz aller Befürchtungen, leider aber auch trotz des Mangels an entsprechend ausgebildeten Lehrern. Das Ergebnis ist positiv: Immer mehr Behinderte lernen gemeinsam mit anderen Kindern in Kitas und Schulen in Deutschland. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung steigt dieser sogenannte Inklusionsanteil weiter. Fast jedes dritte Kind mit Förderbedarf geht inzwischen auf eine Regelschule. Im Schuljahr 2013/2014 lag die Quote bei 31,4 Prozent, 2008/2009 waren es nur rund 18 Prozent. Das ist ein Anstieg von über 70 Prozent.

Trotz dieses Fortschritts bemängeln die Bertelsmann-Forscher eine unbefriedigende Situation für Kinder und Jugendliche mit Handicap. Der Schüleranteil an Förderschulen gehe demnach kaum zurück. Und bundesweit seien die Voraussetzungen in den Ländern für das gemeinsame Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten zu unterschiedlich, rügen sie.

Zu wenig Behinderte mit Aussicht aufs Abitur

Der positive Trend setzt sich außerdem nicht über alle Bildungsstufen fort. Bei Realschulen und Gymnasien ist das Inklusionstempo wesentlich geringer. Diese Schulformen erreicht nur knapp jeder Zehnte der rund 71.400 Schüler mit Förderbedarf in Deutschland. Bei den Grundschulen sind es bereits 47 Prozent. Ist das Glas also nun bundesweit halb leer oder halb voll? Hier streiten sich Wissenschaft und Praktiker.

Elisa Rissmann ist eine von drei Sonderpädagogen an der Kettelergrundschule in Bonn. Ungefähr jedes dritte Kind bekommt hier eine spezielle Förderung. „Unsere Schule tut viel. Aber dies zu dritt zu bewältigen, ist eine Herausforderung“, sagt Rissmann. An anderen Schulen werde Inklusion hingegen kaum gelebt. Genau deshalb findet sie es schwer, die Situation mit Quoten zu verallgemeinern. „Natürlich kann ich verstehen, dass man gerne den Fortschritt in Zahlen sehen möchte, aber das Ganze ist ein Riesenprojekt - das dauert“, sagt die Pädagogin im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Eine ähnliche Kritik äußert auch Matthias Löb an der Studie der Bertelsmann-Stiftung. Der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe muss einen Spagat bewältigen. Sein Kommunalverband betreibt in Nordrhein-Westfalen 35 Förderschulen, die ausschließlich Schüler mit besonderem Bedarf aufnehmen. Gleichzeitig steigt der gesellschaftliche und politische Druck, die Inklusionsquote an Regelschulen zu steigern.

Jedes dritte Kind wechselt von der Regelschule zurück zur Förderschule

„Ärgerlich ist an der Studie, dass nur auf die Rückständigkeit verwiesen wird und nicht auf die Erfolge, die wir haben“, sagt Löb. Inklusion brauche Zeit. „Es kann nicht alles sofort kommen. Wir reden doch ernsthaft erst seit drei bis vier Jahren über dieses Thema.“ Löb fordert neue Denkansätze. Auch in Bezug auf die Förderschule. „Ich frage mich, warum dieses spezielle pädagogische Konzept, bei dem ja in der Regel zwei speziell ausgebildete Fachkräfte mit nur einer Handvoll Schülern arbeiten, in der Diskussion keine Rolle mehr spielt.“ Löb gibt zu bedenken: „Wir halten die Kinder ja nicht krankhaft bei uns fest. Aber mittlerweile kommt jedes 3. Kind, das bei uns ist, von einer Regelschule zu uns zurück.“

Der Praktiker fordert eine ehrliche Sichtweise ein. „Nur ein bis drei Prozent der Schüler mit Förderungsbedarf schaffen es auf einen Ausbildungsplatz und bekommen später dann auch einen Arbeitsplatz. Das ist viel zu wenig. Es zeigt aber, dass nicht jeder Schüler alles leisten kann“, sagt Löb. Die Bertelsmann-Stiftung fordert einen größeren finanziellen Einsatz. „Zu oft scheitert gemeinsames Lernen an mangelhafter Infrastruktur und unzureichender Ausbildung der Lehrer“, sagt Jörg Dräger vom Stiftungs-Vorstand. Löb schlägt in die gleiche Kerbe: „Die Bedingungen, die wir heute an Förderschulen haben, werden wir in den Regelschulen noch nicht in zehn Jahren haben.“

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