
"Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben", hat Goethe einmal geschrieben. Wenn er Recht hat, leben viele Deutsche in völliger Dunkelheit. Denn bei dem Geschichtswissen der Deutschen hapert es schon, was die letzten fünfzig Jahre anbelangt.
So zeigt eine Umfrage des Forschungsverbund SED-Staat von der Freien Universität Berlin, dass 19 Prozent der Deutschen keine Ahnung haben, wann die Berliner Mauer gebaut wurde. Jeder dritte Ostdeutsche hält die ehemalige DDR für eine Demokratie und 40 Prozent der Befragten kennen die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur nicht.
Was junge Deutsche über unsere Geschichte zu wissen glauben
40 Prozent der Jugendlichen mussten diese Frage mit "nein" beantworten. Das ist das Ergebnis einer Studie des Forschungsverbundes SED-Staat von der Freien Universität Berlin.
Ebenfalls 50 Prozent glauben nicht, dass das Dritte Reich eine Diktatur war. Unter jugendlichen Migranten bewerten sogar 40 Prozent das damalige Regime positiv oder neutral.
50 Prozent der befragten Teilnehmer konnten diese Frage richtig beantworten: Der Beginn des Mauerbaus in Berlin. 31 Prozent dachten bei Nennung dieses Datums an ein anderes wichtiges politisches Ereignis der sechziger Jahre (bei der Fragestellung wurde zur Auswahl vorgegeben: Mauerbau, Kuba-Krise, Weltraumflug Juri Gagarins, Rücktritt Konrad Adenauers). Jeder fünfte Deutsche (19 Prozent) sieht sich nicht in der Lage, dem Datum "13. August 1961" eines der genannten Ereignisse zuzuordnen.
Mit dem Bau der der Berliner Mauer sollte die massenhafte Flucht in Richtung West unterbunden werden um so den Zusammenbruch des DDR-Systems zu verhindern. 22 Prozent der vom Forschungsverbund SED-Staat Befragten antwortete allerdings, dass die DDR-Führung mit dem Mauerbau die Einmischung des Westens in die Angelegenheiten der DDR unterbinden und damit den West-Ost-Konflikt entschärfen wollte. Einige Jugendliche hätten sogar behauptet, der Westen hätte die Mauer gebaut, um Armutsflüchtlinge aus dem Osten abzuwehren.
Zwar führte die Deutsche Demokratische Republik (DDR) das Wort Demokratie im Namen, demokratisch legitimiert war sie jedoch nicht. Laut Umfrage glaubte jedoch jeder dritte in Ostdeutsche, dass die DDR eine Demokratie gewesen sei. Im Westen dachte das jeder Vierte.
Immerhin 50 Prozent der Befragten sagten, dass es sich bei der alten Bundesrepublik um eine Demokratie gehandelt hat.
Für Professor Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes, ist die Schule an dieser Bildungsmisere schuld. "Im Elternhaus wird wenig über Zeitgeschichte gesprochen - und wenn, dann beschönigend", sagt er. Wer erzähle seinen Kindern schon, dass er mit Steinen auf die amerikanische Botschaft geworfen habe. "Die Eltern rücken ihre eigene Geschichte ins Licht, deshalb muss die Schule Zeitgeschichte thematisieren." Doch davon sei nichts zu spüren. Entweder findet Geschichte nach 1945 in der Schule nicht statt, oder es bleibe nichts davon hängen.
Was Schüler in der neunten Klasse können sollen
Es ging um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) – und zwar über alle Schulformen hinweg. In Mathematik wurden sechs Kompetenzformen aus dem gesamten Spektrum mathematischen Arbeitens untersucht, wie „Probleme mathematisch lösen“ aber auch „Raum und Form“ sowie „Daten und Zufall“. In den Naturwissenschaften ging es vor allem um Grundbildung, aber auch um fachübergreifendes Problemlösen.
Die Aufgaben wurden auf der Grundlage der von den Kultusministern für alle Bundesländern verbindlich eingeführten Bildungsstandards für diese Fächer entwickelt – unter Mitwirkung von Schulpraktikern. Bildungsstandards beschreiben, was ein Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe können soll. Sie gelten für Lehrer als pädagogische Zielvorgabe und haben damit die zuvor in allen Bundesländern unterschiedlichen Lehrpläne abgelöst.
Die Untersuchung fand vormittags in der Schule statt und dauerte jeweils etwa dreieinhalb Zeitstunden (inklusive Pausen). Hinzu kamen anschließend Interviews mit Schülern, Fachlehrern und Schulleiter über die Lernbedingungen.
Der „Klassiker“ ist die weltweite PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Des weiteren gibt es noch die internationale IGLU-Grundschulstudie und die internationale TIMSS-Untersuchung mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften – sowohl für die Grundschule als auch für die achten Klassen. Allerdings haben die Kultusminister bei PISA und IGLU die zuvor üblichen Bundesländervergleiche gestoppt. Deutschland macht zwar bei den internationalen Studien weiter mit, aber nur noch mit einer kleineren nationalen Stichprobe – etwa 5000. Dies ermöglicht kein Bundesländer-Ranking.
Darüber lässt sich nur spekulieren: Die Kultusminister können die politisch brisanten Bundesländervergleiche auf der Basis ihrer eigenen vereinbarten Bildungsstandards sicherlich besser steuern. Auch das IQB arbeitet im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Zuvor war es vor allem mit den internationalen PISA-Forschern der OECD wegen der ungünstigen deutschen Chancengleichheitswerte und der Schulstrukturfrage immer wieder zu Konflikten bei der Interpretation von Daten gekommen.
Überraschend ist, dass neben allen ostdeutschen Ländern diesmal aus dem Westen nur Bayern und Rheinland-Pfalz durchgängig gut abschneiden. Mathematik und Naturwissenschaften waren eine Domäne der DDR-Schulen. Auf die Fachlehrerausbildung legte man hier besonderen Wert. Auch spielen die Naturwissenschaften auf den Stundentafeln der ostdeutschen Schulen heute noch eine größere Rolle als im Westen.
Die Studie belegt erneut die erschreckend hohe Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland. Neuntklässler aus der Oberschicht haben gegenüber Gleichaltrigen aus bildungsfernen Schichten einen Lernvorsprung in Mathematik von fast drei Schuljahren.
Bildungsexperten raten seit Jahren, nicht ganze Bundesländer miteinander zu vergleichen, sondern besser Regionen mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen und Problemlagen. Also etwa Berlin mit dem Ruhrgebiet, wegen der hohen Ausländerquoten unter den Schülern, oder ländliche Gebiete im Osten Deutschlands mit denen im Westen, wegen Abwanderung und Bevölkerungsrückgang.
"Auf ein unzureichendes Geschichts- und Politikverständnis in Deutschland haben schon mehrere Studien hingewiesen", bestätigt auch Manfred Prenzel, Bildungsforscher und Vorsitzender des Wissenschaftsrats. Es gebe in Deutschland nicht nur die von Pisa aufgezeigten Probleme beim mathematischen und naturwissenschaftlichen Verständnis. "Erschüttert kann man über die Befunde schon sein, wenn man weiter von der Idee ausgeht, Deutschland würde sich durch eine starke Allgemeinbildung auszeichnen. Mit dieser gerne gepflegten bildungsbürgerlichen Vorstellung hat die empirische Bildungsforschung aufgeräumt", sagt er. Auch er gibt der Schule zumindest eine Teilschuld an der Misere.
Uns fehlt das Demokratieverständnis
Dabei gehe es gar nicht darum, zu vermitteln, ob die Mauer nun am 13. oder am 18. August gebaut worden ist, wie Schroeder betont. Viel wichtiger sei es, Hintergründe und Zusammenhänge zu kennen. Doch die fehlten den meisten Schülern völlig. Deshalb können viele Umfrageteilnehmer den Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur nicht erklären. "Das sind abstrakte Begriffe, die im Unterricht mit Leben gefüllt werden müssen", sagt er. Man müsse erklären, dass es verschiedene Arten der Diktatur gibt und wie eine Demokratie funktioniert. "Die Demokratieerziehung funktioniert hier nicht", sagt er.
Können Sie diese PISA-Aufgaben lösen?
An Manuelas Schule führt der Physiklehrer Tests durch, bei denen 100 Punkte zu erreichen sind. Manuela hat bei ihren ersten vier Physiktests durchschnittlich 60 Punkte erreicht. Beim fünften Test erreichte sie 80 Punkte. Was ist Manuelas Punktedurchschnitt in Physik nach allen fünf Tests?
a) 64 Punkte
b) 72 Punkte
c) 68 Punkte
Fünf Seiten eines Würfels von drei Zentimetern Kantenlänge werden rot angestrichen, die sechste Fläche bleibt ohne Anstrich. Wie viel Prozent der Würfeloberfläche sind rot?
a) Etwa 60 Prozent
b) Etwa 83 Prozent
Wie tief ist der Tschadsee heute?
a) Etwa 15 Meter
b) Etwa fünfzig Meter
c) Etwa zwei Meter
Wie verändert sich das Gewicht auf der Waage wenn man beim Wiegen schwungvoll in die Knie geht?
a) Es ändert sich gar nichts an der Gewichtsangabe
b) Das Gewicht wird für diesen Moment höher angezeigt
c) Das Gewicht wird kurzzeitig geringer angezeigt
Die Temperatur im Grand Canyon reicht von unter 0 Grad bis über 40 Grad. Obwohl es sich um eine Wüstengegend handelt, gibt es in einigen Felsspalten Wasser. Wie beschleunigen diese Temperaturschwankungen und das Wasser in den Felsspalten die Zersetzung des Gesteins?
a) Gefrierendes Wasser dehnt sich in Felsspalten aus
b) Gefrierendes Wasser löst warmes Gestein auf
c) Wasser kittet Gestein zusammen
Wie wirkt es sich aus, wenn Sie eine dunkle Sonnenbrille ohne UV-Schutz tragen?
a) Es gelangen mehr UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
b) Es gelangen weniger UV-Strahlen ins Auge als ohne Brille.
c) Es gelangen genau so viele UV-Strahlen ins Auge wie ohne Brille.
Frage 1: a
Frage 2: b
Frage 3: c
Frage 4: c
Frage 5: a
Frage 6: a
Die Unkenntnis erstrecke sich aber nicht nur auf die DDR-Geschichte und komme längst nicht nur bei Hauptschülern vor: Schroeder berichtet von Studenten der Politikwissenschaft, die nicht wissen, wer Herbert Wehner war oder das Ludwig Erhard als Vater des Wirtschaftswunders galt. "Die haben einen Numerus Clausus von 1,5 oder 1,6 und kommen voraussetzungslos an die Uni." Es sei erstaunlich, wie wenig die Studenten wüssten. "Die haben keine Ahnung von Zeitgeschichte und keine Ahnung von Wirtschaft."
Schuld daran sei aber nicht nur die ungenügenden Vermittlung von Wissen an den Schulen. Komplexe Themen wie beispielsweise der Nahost-Konflikt, überfordern uns seiner Meinung nach. Und was wir nicht verstehen, ignorieren wir lieber, so Schroeder. Hinzu komme, dass junge Menschen nichts Hintergründiges mehr lesen, die wenigsten läsen überhaupt noch ganze Bücher, von Tageszeitungen ganz zu schweigen. "Es gibt leider einen immer noch großen Anteil von Menschen, die kaum etwas lesen und für die Nachrichten und Politik nicht wirklich interessant sind", bestätigt auch Manfred Prenzel. Für ihn ist es deshalb nicht nur die Aufgabe der Schule, sondern auch der Medien, dazu beizutragen, dass Menschen von Zeitungen und Nachrichten so angesprochen werden, dass sie sich darauf einlassen.
Wir waren früher auch nicht klüger
Heißt das, wir verblöden zusehends? Mitnichten, sagt Professor Heiner Barz von der Universität Düsseldorf. "Wenn man Allgemeinbildung daran misst, ob jemand die fünf wichtigsten Werke von Goethe oder Mozart nennen kann, dann ist die Allgemeinbildung heute wirklich schlecht", räumt er ein. Dafür sei das Wissen um alltagsnahe Dinge deutlich größer und das Bildungsniveau über alle Schichten hinweg deutlich höher. Es habe eine Expansion der Bildung gegeben: Wir fangen immer früher an zu lernen und müssen immer mehr wissen. Dinge, die unseren Alltag nicht berühren, fallen deshalb bei einigen durch das Raster. Trotzdem: "Früher war es nicht besser. Weder bei Bildung, Gesundheit oder Gewalt", sagt er. Dennoch höre man überall von den Verfallszenarien: immer mehr Menschen stürben an Herzinfarkten, immer mehr Menschen seien gewalttätig, immer mehr wissen immer weniger.
Dabei seien junge Deutsche im internationalen Vergleich heute sogar besser gebildet als früher, sagt Prenzel. Das bestätigen auch die im letzten Jahr veröffentlichten Ergebnisse der PIACC-Studie (Programme for the International Assessment of Adult Competencies). Laut der Studie ist es eher um die Bildung der Älteren schlecht bestellt: Deren Lesefähigkeit und das mathematische Wissen ließen besonders zu wünschen übrig. In den letzten Jahren werde außerdem zunehmend darauf geachtet, dass nicht nur irgendwelche Fakten auswendig gelernt werden, sondern dass Zusammenhänge verstanden werden, so Prenzel. "Das weist darauf hin, dass die Schule im letzten Jahrzehnt durchaus einen wichtigen Beitrag geleistet hat." Doch Bildung und Lesen stünden für viele Eltern nicht im Zentrum. Und was die Eltern nicht vorleben, machen die Kinder nun mal nicht nach. Da hilft dann auch der beste Lehrer nichts.