Wie sehr Mitarbeiter unter ihren Chefs leiden, bezeugt regelmäßig die viel zitierte Gallup Engagement-Studie: Angeblich ist nur einer von sechs Mitarbeitern wirklich engagiert, jeder sechste hat bereits innerlich gekündigt. Es herrscht eine bemerkenswerte Einigkeit: Schuld an dieser Misere tragen die vielen Chefs ohne Führungstalent.
Selbstverständlich gibt es wünschenswerte Qualitäten, die erfolgreiche Führung begünstigen. Es macht durchaus Sinn, wenn Vorgesetzte ihre Rolle reflektieren und ihr kommunikatives Geschick verbessern. Diejenigen, die das versäumen, werden unweigerlich zum Problem für ihre Mitarbeiter.
Unrealistische Erwartungen an die Führungskräfte
Es steht jedoch außer Frage, dass nicht alle Mitarbeiter gleichermaßen unter einer inkompetenten Führungskraft leiden. Während der eine mit den Nerven am Ende ist, tut der andere das Problem schulterzuckend ab. Wahrnehmung ist eben subjektiv und wird von Bedürfnissen, Erfahrungen und Erwartungen bestimmt.
Daraus ergibt sich ganz logisch, dass Führungskräfte höchstens der Auslöser für das Problem ihrer Mitarbeiter sein können, jedoch nicht dessen Ursache. Aber worin liegt dann die Ursache?
Zur Person
Diplom-Psychologin Marion Lemper-Pychlau hat sich auf den Themenbereich Arbeitspsychologie spezialisiert. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Fachartikel sowie professionelle Vortragsrednerin.
Tatsächlich werden nur jene Mitarbeiter unter ihren Führungskräften leiden, die eine schmerzliche Diskrepanz feststellen: zwischen ihren Erwartungen und der Realität. Statt nun zu behaupten, die Realität sei nicht in Ordnung, könnte man ebenso prüfen, ob die Erwartungen in Ordnung sind. Und das sind sie in vielen Fällen definitiv nicht.
Der Chef ist an allem schuld
Was wird dem Chef nicht alles angekreidet?! Dass er die Bedürfnisse der Mitarbeiter unzureichend berücksichtigt, indem er sie beispielsweis zu wenig lobt. Dass er nicht erreichbar ist. Der Befindlichkeit seiner Mitarbeiter zu wenig Beachtung schenkt und so weiter.
Es sind die Klagen von Menschen, die offenbar nicht gelernt haben, rundum Verantwortung für sich zu tragen. Die immer noch in kindlicher Erwartung verharren, jemand müsse sich um ihre Bedürfnisse kümmern. Wer sich wünscht, dass sein Chef sich seinen Erwartungen anpasst, verkennt die menschliche Natur seines Chefs, die Fehler erwarten lässt. Er verkennt den Druck, unter dem die meisten Chefs heute stehen. Und er erlaubt dem Chef nicht, in seine Verantwortung hinein zu wachsen. Er will Befriedigung. Jetzt! Das ist der Egozentrismus eines Kindes. Diese Haltung erzeugt unvermeidlich Frustration.
Schlechter Chef? So werden Führungsschwächen zu Entwicklungschance für die Mitarbeiter
Der Mangel an Anerkennung macht vielen Mitarbeitern zu schaffen. Wichtiger als irgendein Lob von außen ist jedoch die Selbstachtung. Letzten Endes sollten wir so unabhängig wie möglich von äußerer Anerkennung werden. Wir dürfen andere nicht zu unseren Richtern machen. „Der Gerichtshof ist im Innern des Menschen aufgeschlagen.“ konstatierte Immanuel Kant. Die Stärkung der Selbstachtung wäre die angemessene Reaktion auf fehlendes Lob vom Chef.
Quelle: Diplom-Psychologin Marion Lemper-Pychlau
Es gibt sie noch, die autoritären Chefs. Entweder unterwirft man sich ihnen oder man bietet ihnen die Stirn. Wer sich wehrt, muss mit Schwierigkeiten rechnen. Andererseits übt er sich darin, eigene Interessen zu behaupten, Konflikte zu ertragen und seine Selbstachtung zu wahren.
Es geht nicht immer anständig zu. Vorgesetzte mit einer fragwürdigen Ethik sollten mehr als Empörung auslösen. Da ein Angestelltenverhältnis nicht von der Verantwortung für das Ganze entbindet, ist es wichtig, in solchen Fällen Widerstand zu leisten. Mitarbeiter müssen für ihre Werte einstehen. Gut sein stärkt die Selbstachtung und fühlt sich gut an. Feigheit eher nicht.
Manchmal sind Vorgesetzte unsicher und scheuen vor Entscheidungen zurück. Die Unentschlossenheit der Führungskraft kann Anlass für die Eigeninitiative ihrer Mitarbeiter sein. Sei es, indem man Überzeugungsarbeit leistet, Unterstützung anbietet oder Fakten schafft. Sicher ist: Wo Vorgesetzte ihre Spielräume nicht nutzen, erweitern sich die der Mitarbeiter.
Offenbar geben Vorgesetzte mit ihrem Mangel an sozialer Kompetenz den Mitarbeitern einen häufigen Grund zum Klagen. Für die Mitarbeiter kann das eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, die eigene soziale Kompetenz zu verbessern: Sie können beispielsweise lernen, strategisch zu denken, diplomatischer zu kommunizieren, geschickt Einfluss auszuüben, nicht alles persönlich zu nehmen etc.
Alternativ könnte man einfach beschließen, die Wirklichkeit anzuerkennen und das Beste daraus zu machen. Denn sämtliche Schwächen der Vorgesetzten lassen sich zum Anlass nehmen, als Person zu reifen. Letzten Endes kann man sogar mit einem Psychopathen zusammenarbeiten, wenn man erst verstanden hat, wie er tickt.
Letztlich ist es absurd, den Chef für das eigene Unglück verantwortlich machen zu wollen. Man redet ja auch für gewöhnlich nicht darüber, wie schlechte Mitarbeiter den Chef krank und unglücklich machen. Man erwartet ganz selbstverständlich, dass Chefs mit schlechten Mitarbeitern umgehen können.