Ralf Konersmann Was wir von der Philosophie der Stoa lernen können

Der Stoizismus wirkt auch nach 2000 Jahren noch befreiend, sagt der Philosoph Ralf Konersmann. Ein Gespräch über die Aktualität Senecas, den Weg zur Selbstbeherrschung und die beruhigende Wirkung des Denkens.

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Ralf Konersmann. Quelle: Bodo Kremmin

WirtschaftsWoche: Die Denker der Stoa, vor allem Seneca und Marc Aurel, haben heute noch begeisterte Leser - weil diese Leser das Gefühl haben, dass Philosophie hier praktisch, womöglich ratgebertauglich wird?

Konersmann: Das ist ein klassischer Anspruch der Philosophie: den Menschen in ihrer Hilflosigkeit, ihrer Bedrängnis, auch ihrem Glücksverlangen etwas sagen zu können. Aber das Fach hat sich im Zuge seiner Akademisierung gespalten. Schon Kant spricht von einer Philosophie dem „Schulbegriffe“ und dem „Weltbegriffe“ nach. Daran sehen Sie, wie ambivalent die Philosophie schon vor mehr als 200 Jahren war: Einerseits hat sie zunehmend ihren eigenen Interessen, ihren argumentativen und methodischen Bedürfnissen nachgegeben, hat sich immer mehr verästelt und verfeinert, andererseits hat sie versucht, dem Auskunftsbedürfnis des Publikums entgegenzukommen.

Es ist ihr freilich immer schwerer gefallen, diesen Spagat auszuhalten und auf der populären, der nicht-esoterischen Seite ihren Ansprüchen zu genügen. Und so hat ein Prozess eingesetzt, in dem die Philosophie ihr ureigenes Terrain anderen überlassen musste, den Journalisten, Schriftstellern und Intellektuellen. Daneben gab es natürlich auch immer Figuren wie Schopenhauer oder Nietzsche, nicht zu vergessen Marx, die Nicht-Philosophen faszinieren konnten. Man könnte als Fachphilosoph sagen: Das waren nicht-philosophische Anteilnahmen an der Philosophie. Und das Besondere an der Stoa ist nun, dass sie sich in diesem Spannungsfeld schon immer ganz routiniert bewegt hat.

Buchcover-Montage Ralf Konersmann Die Unruhe der Welt Quelle: Presse

Weil sie sich den Lebensfragen der Menschen stellte?

Genau das hat den Dauererfolg der Stoa, die ja mehr als 2000 Jahre alt ist, begründet. Sie wurde immer wieder neu entdeckt. Es gibt eine reiche Rezeptionsgeschichte des Stoizismus. Besonders beeindruckend im frühen 17. Jahrhundert, in der Handelsmetropole Antwerpen, im katholischen Milieu von Kaufleuten und Unternehmern, die aus der engen Dogmatik des Katholizismus ausbrechen wollten, ohne die Glaubensgrundlagen aufzugeben. Zu den führenden Köpfen gehörte auch Rubens, der das berühmte Gemälde des sterbenden Seneca geschaffen hat. Am Antwerpener Beispiel sieht man, wie ungeheuer befreiend der Stoizismus gewirkt hat mit seiner Fähigkeit, dogmatische Grenzen aufzusprengen, Lebensnähe herzustellen und, als entscheidendes Motiv, Sicherheit des Handelns zu ermöglichen.

Zur Person

Sicherheit des Handelns in unsicheren Zeiten - ist das ein Versprechen, für das die Stoa seit ihren Anfängen steht? Seit dem Zusammenbruch der griechischen Stadtstaaten im 3. Jahrhundert v. Chr. und dem damit verbundenen Verlust kultureller Selbstverständlichkeiten?

Ja, die Stoa leistet hier etwas, was der Soziologe Niklas Luhmann „Reduktion von Komplexität“ genannt hat. Aber nicht willkürlich, nach Maßgabe irgendwelcher Zwecke und Zielvorstellungen, sondern mit dem Versprechen, dass dies sachlich gebotene, verlässliche  Reduktionen sind, dass sie seriös und tragfähig sind auf Grund ihrer Situationsangemessenheit. Man darf nie vergessen, dass die Stoa nicht nur eine Ethik und Verhaltenslehre ist, sondern immer wieder auf die natürlichen Zusammenhänge reflektiert. Wie Seneca sich als Ethiker versteht, so auch als Naturphilosoph. Und das hat genau diese Pointe: dass die ethischen Vorgaben nicht besonders „moralisch“ sind, etwa im Sinne der christlichen Nächstenliebe, sondern immer entlang der „Natur der Dinge“ formuliert, aus dem „Sein der Welt“ heraus konstruiert werden.

Philosophie als Therapie?

Die jüngere Stoa, vor allem Seneca, will das Wesen der Welt erkennen, um die Menschen zu kurieren. Wird Philosophie hier zur Therapie?

Das Erkennen selbst hat etwas Therapeutisches, es beruhigt. Darin steckt ein emphatisches Bekenntnis zur Philosophie: Ich erkenne, geleitet durch die Vernunft, Sachverhalte und gewinne Einsichten, die sich künftig bewähren werden, wenn ich nur die Kraft aufbringe, ihnen zu folgen und mich an ihnen zu orientieren. Dadurch gewinne ich Halt. Die Worte Halt und Haltung, das Sprachfeld des Haltens und Gehaltenwerdens, des Durchhaltens und Standhaltens ist überaus bezeichnend für die Stoa…

…und bezieht sich auf die innere wie äußere Welt des Einzelnen?

Ja, die große Welt hält mich, wenn ich aufhöre, eigenwillig gegen ihre Verfasstheit zu rebellieren. Wir sollen uns anpassen, sagt Seneca, freilich nicht an irgendwelche Despoten im Sinne des Nachgebens an eine blanke Macht. Seneca folgt einer anderen Logik: Er empfiehlt die Anpassung an die Gegebenheiten der Welt, so dass wir uns nicht aufreiben, uns keine Verletzungen zuziehen, sondern uns geschickt, vor allem klug verhalten. Dabei hilft uns die Philosophie: durch vernünftige Einsicht in die Verhältnisse.

In Ihrem jüngsten Buch „Die Unruhe der Welt“ zitieren Sie als Motto ein Wort Senecas aus dem 92. Brief an Lucilius: „Was ist das glückliche Leben? Sorgenlosigkeit und beständige innere Ruhe.“ Was genau ist damit gemeint?

Man merkt es vielleicht nicht sofort, aber der Begriff der Sorgenlosigkeit drückt eine Negation aus: Die Freiheit von Sorgen. Da ist ein Abwehrgestus am Werk, da wird versucht, die Dinge auf Abstand zu halten, die sich mir aufdrängen. Die Prämissen sind dabei: Der Mensch ist unvollkommen, er ist schwach, die Welt ist nicht für ihn gemacht. Erfahrungen, die jeder von uns aus seiner Perspektive nachvollziehen kann: die Gefahr des Scheiterns, der Unsicherheit, des Bedroht-Seins. Und die Stoa knüpft genau hier an. Sie fragt: Wie befreie ich mich aus den Sorgen, aus den Bedrängnissen des Lebens? Ihre Ethik ist der Versuch, einen Ausweg zu zeigen, ohne billige Lösungen, die unser Dilemma nur verschärfen.Und die innere Ruhe…

… ist dazu gleichsam das positive Gegenstück. Man könnte sie fast als Vorgabe des Weges interpretieren, der zu beschreiten ist: Indem ich Bürden und Belastungen abstreife, finde ich allmählich zur Ruhe. Es geht also um ein Projekt, um das ich mich bemühen, um das ich ringen muss. Seneca scheut nicht Metaphern aus der Welt des Militärischen: Wir sind Krieger, Leben heißt kämpfen, heißt sich freikämpfen…

Klingt eher unstoisch…

Nur scheinbar, denn zur Stoa gehört auch ein kämpferischer Zug, die Zähigkeit, sich nicht beirren zu lassen von Verführungen, etwa, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, durch die Werbung mit ihren Wohlfühlformeln und Suggestionen: Man müsse nur das Richtige kaufen, die richtige Versicherung wählen etc., um ein sorgenfreies Leben zu führen.

Die gefährlichsten Krisengebiete der Welt
Syrien und IrakIn den Konflikten in Syrien und im Irak gehört die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu den stärksten Kriegsparteien. Sie beherrscht in beiden Ländern große Gebiete, in denen sie ein „Kalifat“ errichtet hat. Im syrischen Bürgerkrieg bekämpfen sich zudem das Regime und seine Gegner. Die Armee ist mit starker Hilfe von Kämpfern aus dem Iran, von der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah sowie von der russischen Luftwaffe auf dem Vormarsch. Die moderate Opposition wird vom Westen unterstützt. Quelle: AP
Ukraine Quelle: dpa
Nigeria Quelle: dpa
Libyen Quelle: dpa
Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer Quelle: dpa
Nordkorea Quelle: dpa
Afghanistan Quelle: dpa

Da macht der Stoiker nicht mit, er wählt nicht den einfachen Weg, den Weg des geringsten Widerstands.

Er erspart uns nicht die Einsicht, dass der stoische Weg ein harter, beschwerlicher Weg sein wird, einzig und allein getragen von der Zuversicht, dass er sich am Ende gelohnt haben wird, trotz Rückschlägen und bitteren Erfahrungen.

Auch die Puritaner haben ihren Seneca gelesen

Der stoische Weg zur inneren Ruhe ist ein Projekt, sagen Sie, Seelenruhe wird durch Anstrengung erworben, ist ein Resultat vernünftiger, man könnte auch sagen: methodischer Lebensführung?

Ja, nicht nur die Methodisten, auch die Puritaner haben ihren Seneca gelesen. Man denke nur an die Forderungen der protestantischen Ethik, wie Max Weber sie beschrieben hat: Das Tagebuch-Führen, die Gewissensprüfung, das Rechenschaft-Ablegen  vor der Gemeinde - all das sind stoische Implikationen, die zeigen, wie rigide diese Ethik ist, wie wenig sie geneigt ist, dem Einzelnen Fehltritte nachzusehen. In dieser Askese berühren sich Stoa und Teile des Protestantismus.

Worauf kommt es auf dem Weg zur Seelenruhe an?

Es geht um regelrechte Exerzitien, um seelische und körperliche Übungen. Seneca empfiehlt etwa harte Matratzen für die Nachtruhe. Man soll sich keine Weichheiten, keinen Luxus leisten, keine Delikatessen. Erst Selbstdisziplin, die freiwillige Unterwerfung unter das, was man für notwendig hält, das konsequente Nicht-Abweichen vom Weg verspricht Erfolg. Wir neigen dazu, solche Übungen zu psychologisieren. Ebenso wichtig aber ist das Vermögen der Interpretation: dass ich lerne, die Welt richtig anzusehen, dass ich mir die Dinge zurechtlege, um etwas mit ihnen anfangen zu können. Auch hier bewährt sich wieder die therapeutische Funktion des Denkens: zu zeigen, dass die Welt mich nicht bedroht...

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…oder der Tod mich in Angst und Schrecken versetzt.

Ja, der Tod ist in der gesamten antiken Philosophie ein Musterbeispiel für die Bedeutsamkeit und das Vermögen des Interpretierens: Ich muss dem Tod Bilder und Erzählungen abringen, die ihn mir erträglich, vielleicht sogar als Erlösung erscheinen lassen. Und da sind die Stoiker ganz stark, das hat zu ihrer Rezeption enorm beigetragen: dass sie Formulierungen gefunden haben, den Tod nicht als Schrecknis, sondern als eine Art Übergang, als Entlastung und Erleichterung zu sehen, die es uns erlaubt, bis zur letzten Sekunde des Lebens stark zu sein. Genau das fängt Rubens in seinem Seneca-Bild ein: Während alle um ihn herum verzweifelt sind, beweist der sterbende Seneca Standhaftigkeit, er bleibt stehen bis zuletzt.

Der Stoiker bleibt gelassen, er entgeht der Unruhe der Welt, indem er sie angemessen interpretiert?

Mit der Interpretation allein ist es nicht getan, ich muss auch die Konsequenzen daraus ziehen. Wenn die Welt mich bedroht, wenn sie mich verunsichert, wenn sie mir ernsthaft Schaden zufügen kann, durch Unfälle oder durch Krankheit, durch Kriege und Naturkatastrophen, durch den Verlust von Verwandten und Freunden, dann hat die Distanz des Stoikers nicht nur den Zweck, sich der Betroffenheit zu entziehen, sondern diese Zumutungen, diese Schläge auszuhalten. Da kommt wieder die Metaphorik des Haltens ins Spiel, des Aushalten-Könnens.

Das kann man auch kritisch sehen, als Teilnahmslosigkeit.

Oder Mitleidlosigkeit. Der Stoiker, so das landläufige Bild, ist durch nichts zu erschüttern. Aber ist er wirklich teilnahmslos? Gewiss, er entwickelt einen Schutzpanzer, der aus stoischer Sicht insofern erlaubt, ja geboten ist, als er extreme Situationen zu überstehen hilft. Seneca spricht zum Beispiel von Gefolterten, die ihre Folterknechte ausgelacht hätten. Das ist für ihn eine ganz große Leistung der Selbstbeherrschung, des Sich-nicht-unterkriegen-Lassens, des Sich-nicht-zum-Opfer-machen-Lassens durch andere.

Eine ungewisse, bedrohte Welt

Im Zentrum von Senecas Denken steht die Selbsterhaltung, die Sorge um sich selbst in einer ungewissen, bedrohten Welt…

…und das ist die große Herausforderung: Wir leben ins Offene hinein, wissen gar nicht, was auf uns zukommt. Wenn ich es wüsste, wäre alles viel einfacher. Die Situation der Unruhe bedeutet immer auch Unwissenheit.  Deswegen bleibt  aus stoischer Sicht nichts anderes übrig, als durch Formen der mentalen Selbstorganisation gewisse Vorkehrungen zu treffen. Anders gesagt: Man muss auf alles gefasst sein, darf sich nicht beirren lassen.

Der Stoiker als Burg und die Philosophie als Mauer?

Seneca spricht von der Festung, einem missverständlichen Bild, weil es das Abschotten in den Vordergrund stellt, die „splendid isolation“ nach dem Motto: „Macht, was ihr wollt, ich halte mich raus“. Das ist gerade nicht die Position des Stoikers. Genauso wichtig wie Distanz ist für das Gelingen des stoischen Projekts die Teilnahme an der Welt, der Versuch, Verantwortung für sich und die Welt wahrzunehmen, ohne durch die Exponiertheit der eigenen Position Schaden zu nehmen: Wie halte ich das aus? Wie werde ich den Ansprüchen gerecht?

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Durch das Ausbalancieren von Ruhe und Unruhe?

Ja, Seneca zeigt, dass wir von jeher in einer unruhigen Welt leben, dass sie schwierig ist, zumutungsreich und unzulänglich, uns aber auch die Chance der Bewährung bietet, der Vervollkommnung. Daran sieht man: dem Stoizismus liegt eine tiefe Weltbejahung zu Grunde. Im Gegensatz zum frühen Christentum, das die Welt verneint, das sie vor dem Hintergrund des verlorenen Paradieses als unvollkommen verurteilt und sich nach paradiesischer Vollkommenheit zurücksehnt. Seneca möchte sich mit der Unzulänglichkeit der Welt arrangieren, er sieht sie als Herausforderung, an der wir wachsen und unsere Projekte entwickeln können. Während die christlich-jüdische Tradition die Ruhe an den Anfang stellt und dann eine Art Verfallsgeschichte erzählt, nach der wir immer tiefer in die Unruhe hineingeraten sind, ohne zu wissen, wie uns geschieht, versucht Seneca das umzukehren: Wir waren und sind in der Unruhe und können, wenn wir den richtigen Weg wählen und uns konsequent an ihn halten, in die Ruhe finden.

Wenn Seneca von „beständiger innere Ruhe“ spricht, meint er nicht Untätigkeit, nicht Stillstand, sondern erfüllte, tätige Muße…

… ja, deshalb greift auch die Polarität von Ruhe und Unruhe zu kurz. Es geht bei Seneca um die richtige Dosierung: die Unruhe nicht grenzenlos werden zu lassen, es mit der Ruhe aber auch nicht zu übertreiben, so dass sie in Antriebslosigkeit, in Trägheit ausartet. Es ist so etwas wie eine „ruhige Hand“ gemeint: Überlegtes Handeln, Bedächtigkeit, Nachdenklichkeit, kombiniert mit den Möglichkeiten der Unruhe, des Gestalten-Könnens, des weitsichtigen Handelns.

Bundeskanzler Gerhard Schröder warb während seiner Regierungszeit für eine Politik der „ruhigen Hand“. Nehmen Politiker in ihrem Habitus, in der Art, wie sich geben, immer noch Maß an der stoischen Haltung?

Das müssen sie, denn mit unserem Politikverständnis verbindet sich die Erwartung der Gestaltbarkeit der sozialen Welt. Gerade weil es in der Gesellschaft viele Bereiche gibt, wie die Kunst oder die Ökonomie, wo Ungestüm ertragen, ja erwünscht wird, muss es auch eine Gegenkraft geben, die steuert, die lenkend eingreift, die eine Idee hat, wie es weitergehen soll mit Blick auf das Ganze. Deshalb ist diese Geste, dieses Bild der „ruhigen Hand“ für Politiker so attraktiv: Mit ihr geht die Suggestion einher, dass nicht nur alles nach vorne stürmt, womöglich in verschiedene Richtungen ausbricht, sondern dass es da so etwas gibt wie ein Zentrum, das über alles  wacht und genau weiß, wann es wie einzugreifen hat.

Balance von Ich und Welt

Die stoische Haltung, das stoische Projekt zielt auf die Balance von Ich und Welt im Zeichen der Vernunft. Überschätzt die Stoa nicht die Selbstkräfte der Rationalität? Traut sie dem Individuum zu viel zu?

Das ist ein wichtiger Einwand, denn der Stoizismus macht eine starke Vorannahme, die wir heute nicht mehr ohne weiteres teilen: dass es eine Verzahnung von Mikro- und Makrokosmos gibt. Nach dem stoischen Kalkül garantiert die Vernunft, dass die individuelle Entscheidung, das kluge Handeln des Einzelnen in Harmonie mit dem Weltgesetz steht. Es geht im Stoizismus im Grunde nur darum, diese Konvergenz herzustellen, also nicht dem Logos der Welt entgegenzuhandeln, sondern Anpassungsleistungen zu erbringen, die dann eben auch belohnt werden, weil ich mich mit der Welt im Einklang befinde. Diese Zuversicht, dass die Welt mit uns im Bunde ist, dass wir gut beraten sind, wenn wir uns auf diese Weltgesetze einlassen, diese Zuversicht haben wir verloren.

Die Welt kommt uns nicht einmal auf halbem Wege entgegen.

Deshalb liegt es an uns, sie zu gestalten und zu verbessern. Aber dann sind wir eben auch für alles  verantwortlich, auch für die Schäden, die wir anrichten. In der Formel des Anthropozän haben Naturwissenschaftler versucht, dieses Phänomen begrifflich einzufangen, in den Geisteswissenschaften wird es schon seit langem so verhandelt: als eine Überforderung des Menschen, der im Verlauf der Neuzeit festgestellt hat, dass die Möglichkeit, eigene Verantwortung an überweltliche Instanzen zu delegieren, nicht mehr besteht. Damit ist das Projekt der Balancierung von Ich und Welt in Frage gestellt.

Und ebenso die Idee des „rechten Maßes“?

Das „rechte Maß“ zu finden, das zuträglich für uns ist, ergab sich für die Stoiker immer aus der Rücksicht auf die natürlichen Verhältnisse und dem Ausgleich zwischen dem, was wir möchten, und dem, was natürlicherweise möglich ist. Hier sehe ich Anknüpfungspunkte zur Ökologie-Bewegung, die ja permanent die Frage stellt: Was sind die Bedürfnisse, die wir ernst nehmen müssen? Und wo überschreitet die Befriedigung dieses oder jenes Bedürfnisses eine Grenze, so dass wir Schaden nehmen?

Denken Sie nur an die Diskussion um Fernreisen: Da geht es um den Versuch, zu klären, was uns guttut, wo wir einen persönlichen Vorteil für einen größeren Schaden eintauschen. Die Ökologie-Bewegung müsste ein zentrales Interesse an der Stoa haben, gerade im Interesse des Ideals vom rechten Maß: Was wäre dieses rechte Maß heute? Und wenn es eines gäbe, wie könnte man es praktisch-politisch plausibilisieren, ohne dass es systemwidrig wird? Das sind ganz zentrale Fragen, die von der Stoa aufgeworfen werden.

Der Kosmologe Seneca ist uns fremd geworden, der Pragmatiker Seneca hingegen ist immer noch aktuell?

Ja, und die Frage ist, wer die Lücke zwischen beiden füllen kann. Da muss man sehr vorsichtig sein, da dürfen wir nicht irgendwelchen Machtinstanzen eine Prärogative zugestehen, die bei Seneca die Natur hatte. Im Grunde gilt es, den Seneca, der uns heute noch etwas sagt, vielleicht mehr als wir auf den ersten Blick glauben, zu bewahren vor der Inanspruchnahme durch falsche Freunde.

Seneca war ein reicher Mann, ein erfolgreicher Politiker und Philosoph – muss man sich den Stoizismus leisten können?

So war er jedenfalls nicht gedacht. Er richtete sich an diejenigen, die keine andere Ressource mobilisieren konnten als ihre Charakterstärke, ihre Bereitschaft, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Nicht alle Stoiker waren reich und gesellschaftlich so erfolgreich wie Seneca. Epiktet zum Beispiel war Sklave. Auch bei ihm spürt man den unmittelbaren Lebensbezug: Wie halte ich ein Leben in der Sklaverei aus? Der Wunsch nach Selbstbestärkung und Selbstbestätigung ist hier ganz elementar. Ich würde also sagen: Nein, die Stoa ist keine Lebenslehre für Begüterte und Privilegierte, sie ist und will ein Angebot sein für jedermann.

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