Seit unter Karl-Popper-Kanzler Helmut Schmidt Visionen unter Pathologieverdacht stehen, ist es in der Politik mit der Zukunftseuphorie vorbei. Die Staatenlenker sind bescheiden geworden, fahren „auf Sicht“ (Angela Merkel) und überlassen Unternehmerfiguren das Feld der Utopie. Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Elon Musk stehen heute für Expedition und Fortschritt, für eine digitale Zukunft, in der der Mensch sich plastisch und genetisch optimiert: „Wir werden uns als Spezies ein gewaltiges Upgrade verpassen“, sagt der israelische Historiker Yuval Harari („Homo Deus“). „Mein ganzes Streben“, sagt der CEO von Alphabet, Larry Page, „geht dahin, herauszufinden, wie die Zukunft aussehen kann, und sie dann zu erschaffen.“
Wenn aber Page die Gegenwart nur noch von einer exakt berechenbaren Zukunft her denkt, wenn Harari mit Blick auf die Fortschritte auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und der Gentechnik die Freiheitsspielräume radikal negiert – wird dann die Gegenwart nicht zum bloßen Erfüllungsgehilfen der Zukunft degradiert? Fällt Letztere dann nicht aus als Denkhorizont, als weites Feld der Gedanken? Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Zeitordnung, die wir seit dem Anbruch der Moderne vor 250 Jahren kennen: Nicht mehr die Gegenwart ist Ausgangspunkt für Zukunftsentwürfe einer besseren Welt, sondern umgekehrt: Eine empirisch berechnete Zukunft beherrscht die Gegenwart – mit welchen Folgen?
Schon einmal hat die Menschheit einen Wechsel des Zeitregimes erlebt. Erinnern wir uns: Im lebensweltlichen Alltag des Mittelalters gab es noch gar keine „Zukunft“ als Projektionsfläche und Wunschadresse, sondern nur das „futurum“ vereinzelter Ereignisse im Rahmen einer festgestellten Gegenwart: Vor Ostern muss die Saat ausgebracht sein ... Die Tochter heiratet eine Woche nach dem Johannisfest ... Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein hatte Zeit für die meisten Menschen keine lineare, sondern eine kreisförmige Gestalt. Die Gesellschaft schöpfte aus dem Vorrat der Vergangenheit. Das Kirchenjahr gab dem Denken und Fühlen der Menschen die Richtung vor. Die religiösen Riten sicherten den Sinn des Lebens.
Erst das Zeitregime der Moderne machte damit Schluss: Die Aufklärung verschob den Akzent von der Tradition zur Innovation, zerstörte den Kreislauf der Gewohn- und Gepflogenheiten, die Macht des unbewusst Gewussten. Der Mensch nahm sein Schicksal fortan selbst in die Hand, verlegte sein Heil von der Vergangenheit in die Zukunft, in Richtung eines planbaren Fortschritts. Die Gegenwart versprach nicht mehr Dauer, sondern wurde als Übergang, als flüchtiger Moment des Umschlags von Vergangenheit in Zukunft erlebt.
Das Projekt der Moderne kennt keinen Stillstand, kein Zurück. Es steht im Zeichen des Prometheus, des Selbsthelfers und gottgleichen Erfinders, der auf der permanenten Flucht nach vorn ist. Zukunft stellen wir uns seit der Zeit der Frühsozialisten nicht mehr als jenseitiges Fernziel vor, als jüngstes Gericht oder visionäre Utopie, sondern als diesseitigen Fahrplan. Von Saint-Simon bis zu Marx reicht der Reigen der Meistererzählungen, die aus der Diagnose einer mangelhaften Gegenwart die Machbarkeit der Zukunft ableiten: Wenn die Menschen der Vernunft vertrauen, wenn sie sich zu wissenschaftlich informierten Analytikern der sozialen Verhältnisse und Ingenieuren der idealen Ordnung machen, kurz: Wenn sie sich zu Herren der Geschichte aufschwingen, steht dem Aufbruch ins irdische Paradies nichts mehr im Wege. Die Vergangenheit sollte endgültig vergehen. Der Glaube an das Wunschland einer besseren Welt verband alle Parteien und Geister. „Der Mensch wird umgebaut!“, versprach die russische Revolution. Und 20 Jahre später verhieß Adolf Hitler der arischen Herrenrasse ein 1000-jähriges Reich. „Linke“ wie „rechte“ Träume vom Paradies verwandelten die Welt in eine Hölle.
Prognose und Planung
Seither sind alle Visionen vom Neuen Menschen und von der neuen Gesellschaft kompromittiert. Seither hat die Zukunft an Strahlkraft eingebüßt, ist der Glaube an ein besseres Morgen gestorben. Vor allem in Deutschland. Joachim Radkau hat in seinem jüngst erschienenen Buch „Geschichte der Zukunft“ gezeigt, dass die Aufbaujahre der Bundesrepublik mitnichten getragen waren von Zukunftsoptimismus. Der Geist der frühen Jahre war antiutopisch, von Arbeit und Alltag bestimmt. Und auch in den Sechzigerjahren, als das Wort vom „Raumschiff Erde“ aufkam und Zukunftsforscher von der Besiedlung des Mondes träumten, sei die politische Gegenwart trotz ehrgeiziger Entwürfe keineswegs von Zukunft beherrscht gewesen. Es dominierte, beispielhaft in der Atompolitik, das Hier und Jetzt.
Erst in der Zeit der sozialliberalen Koalition wuchs die Zuversicht, im Zusammenspiel von Prognose und Planung („Globalsteuerung“) die Zukunft erneut in den Griff zu bekommen. Herrschende Trends wurden verlängert: Der Glaube an eine unendliche Fortsetzung des Wirtschaftswachstums nährte die Hoffnung auf seine Verstetigung, seine Gestaltbarkeit. Doch die meisten Langfristprognosen erwiesen sich als Luftnummern. Die Zukunft machte den Planern einen Strich durch ihre Hochrechnungen. Im Herbst 1973, im Jahr der Ölkrise, war mit den keynesianischen Boomjahren auch das Vertrauen in die Planungsfähigkeit des Staats dahin. Vor allem aber büßte mit Erscheinen des Weltbestsellers „Die Grenzen des Wachstums“ die Zukunft selbst ihren Zauber ein.
Zukunft verwandelte sich damals, so die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, „von einem Gegenstand der Erwartung und Hoffnung zu einem Gegenstand der Sorge und damit zugleich auch der Vorsorge“. Entscheidend dabei ist allerdings nicht, dass der Pionier nun von Warnern begleitet wird und sein Wagemut unter Apokalypseverdacht steht, von der Kernschmelze über das Ozonloch bis zum Treibhauseffekt. Entscheidend ist vielmehr der Perspektivwechsel, dass alle Zukunft heute von einem scheinbar datengesicherten Übermorgen aus zurück ins Heute blickt und die Gegenwart daher zum unruhigen Ort ultimativer Herausforderungen macht. Spätestens seit den Achtzigerjahren begegnet uns Zukunft als empirisch gesicherter Ausgangspunkt für künftige Katastrophenszenarien, als mathematisch berechnete Gefahr, auf die umgehend zu antworten ist. Anders gesagt: Das Szenario diktiert die Gegenwart und setzt die Politik herab zur angewandten Zukunftsforschung. Es suggeriert, ihr bleibe nichts mehr zu gestalten, seit eine gesicherte Zukunft ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.
Mehr Wissen, weniger Freiheit
Ganz gleich übrigens, ob als Apokalypse oder medizinisch-technische Erlösungsfantasie. Denn in einem sind sich der besorgte Wachstumskritiker und der Valley-selige Fortschrittsoptimist seltsam einig. Sie imaginieren die Welt vom Ende her – und man weiß wirklich nicht, welches Ende man deprimierender finden soll: das des Klimatodes oder das eines ewigen Lebens als Mensch-Maschine-Schnittstelle. Wenn aber die Zukunft nur noch das ist, was die Menschen unbedingt tun müssen, um sie zu verhindern oder zu realisieren, dann verliert sie ihren Sinnhorizont als offener Zeitraum. „Je größer das Wissen, je größer die Technologie ... umso irreversibler sind die Weichen, die die Lebenden für ihre Nachkommen stellen“, warnt der Philosoph Robert Spaemann: „Insofern bedeutet technischer Fortschritt von einem gewissen Zeitpunkt an stetig abnehmende Freiheit.“ Man kann es auch so sagen. Seit Zukunft unsere Gegenwart als Gewissheit kolonialisiert, kennt sie keine Weite, keine Sehnsucht mehr und damit – keine Zukunft.